International Association Against Psychiatric Assault
c/o Lawyer/Rechtsanwalt André Raeber, Hinterbergstrasse 24, 6312 Steinhausen, Schweiz/SwitzerlandThe association is a Human Rights organization that opposes psychiatric coercion and aims to abolish psychiatric coercive measures altogether, promoting the fundamental rights of self-determination, liberty, and human dignity.
Das
Hospital von DystopiaStanislaw
Lems Weg vom “Hospital der Verklärung” zu “Solaris”
– ein Nachruf auf ihn
Am
27. März 2006 ist Stanislaw Lem im Alter von 84 Jahren verstorben.
Er war der berühmteste polnische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Wir haben als Menschen, die den Terror der Psychiatrie kennengelernt haben,
ein besonderes Interesse an diesem Schriftsteller, ist er doch unseres Wissens
der Einzige, der in einem Roman die systematischen Morde in den Psychiatrien
von 1939 bis 1948 literarisch verarbeitet hat, die in Deutschland immer
noch mit dem Nazi-Euphemismus “Euthanasie” beschönigt werden.
Diesen nach seinem eigenen Bekunden ersten Roman schrieb Stanislaw Lem 1948.
Der
Titel des Buches ist “Das
Hospital der Verklärung” (1997, Suhrkamp Taschenbuch 2793).
Allerdings konnte Lem den Roman wegen der polnisch-kommunistischen Zensur
nicht veröffentlichen, sondern mußte den Text über Jahre
hinweg umschreiben und ergänzen. Erst 1955, unter gelockerten Zensurbestimmungen,
wurde das Werk in Polen veröffentlicht. Es ist 1959 in der DDR erstmals
auf Deutsch erschienen und wurde 1982 und 1998 im Suhrkamp Verlag als
Taschenbuch wieder herausgebracht. In ihm tritt ein junger Arzt namens Stefan
seine Stellung in einer Psychiatrie an, und schon bald wird ihm die besondere
Atmosphäre an diesem Ort bewußt. Er beobachtet diese seltsame
Umwelt mit Verwirrung und hat mehr und mehr das Gefühl, Mitverantwortung
zu tragen. Der Einbruch der Brutalität durch SS-Truppen, die das Krankenhaus
besetzen und die Insassen liquidieren, läßt alle Fassaden der
Konventionalität zwischen den Kollegen zusammenstürzen.
In
den Nachrufen auf Stanislaw Lem wird dieses Werk oft unterschlagen, obwohl
es unserer Ansicht nach der wesentliche Schlüssel zu Lems Lebenswerk
ist, da es in Lems eigenen Worten “meine Erfahrungen aus der Zeit
des Krieges und der Okkupation enthielt, allerdings nicht autobiographische
Elemente, sondern nur den Versuch, meinem damaligen Verhältnis zur
erkannten Welt Ausdruck zu verleihen.”Als
Polen von Deutschland besetzt war, konnte Lem als verfolgter Jude mit falschen
Papieren als Automechaniker überleben und gehörte dem polnischen
Widerstand an. Sein Vater war Hals-Nasen-Ohrenarzt und Lem studierte mit
zweimaliger Unterbrechung Medizin. Er erhielt auch das Zertifikat für
die vollständige Absolvierung seines Studiums, aber das letzte Examen
zum Doktorat verweigerte er, um einer Karriere als Militärarzt zu entgehen.
Danach wollte Lem nie mehr als Mediziner arbeiten.Stanislaw
Lem wurde einem internationalen Publikum danach durch seine Science-Fiction
Romane bekannt. Dabei spielte “Solaris” durch zwei Verfilmungen
eine besondere Rolle, obwohl er beide für mißraten hielt. Dadurch,
dass er eben keine technischen Phantasien affirmativ als Utopien darstellte,
sondern eher düstere soziale Projektionen der Zukunft entwickelte,
hat er – ähnlich wie auch Philip K. Dick – überhaupt erst literarische
Qualität in das Genre Science-Fiction gebracht. So schreibt die Süddeutsche
in ihrem Nachruf:
Lem
verfügte über fundierte naturwissenschaftliche Kenntnisse, die
er in seinen Romanen und Erzählungen eindrucksvoll mit philosophischen
und moralischen Problemstellungen zu einer zeitkritischen Utopie verknüpfte.Dabei
wich eine anfängliche Technik-Faszination immer mehr einem skeptischen
Menschheits-Pessimismus. Zu Weltruhm aber gelangte er als Meister der seriösen
und intelligenten Science-Fiction-Literatur, in der er die Einflußnahme
der Technik auf die geistige Welt schilderte.
Dem
Autor Marcus Hammerschmitt gelingen literarische Science-Fiction-Roman ebenfalls.
Er schreibt in seinem Nachruf auf Stanislaw Lem in der schweizer Zeitung
“Sonntagsblick”:
Aber
was war es genau, was mich so elektrisierte? Heute würde ich sagen:
die Kühnheit Lems. Der Mut, mit dem er einer wenig attraktiven, epigonalen
und manchmal sterilen Literaturform Vision, Poesie, literarische Genauigkeit
beibrachte.
Wie
er da hin ging und sagte: Euch zeige ich, dass bestimmte Erfahrungen und
Konstellationen unseres Zeitalters überhaupt nur im Rahmen der Science
Fiction verhandelbar sind, und nirgendwo sonst. Euch zeige ich, wie das
absolut Fremde in der Literatur benannt und beschworen werden kann, ohne
dass man zu billigen Kostüm- und Theatertricks greifen muss. Ich stelle
dar, wie es Menschen in einer Welt geht, die nicht für Menschen gemacht
ist, die uns zwar auf höchst unklare und manchmal tief verstörende
Weise entgegen kommt, aber von der nicht zu sagen ist, ob sie uns auf Dauer
auch nur toleriert.
Dass
Lem die Kühnheit besass, all dies in einem repressiven Gesellschaftssystem
zu sagen, das dann doch flexibel und vernünftig genug war, ihn an diesem
Punkt gewähren zu lassen, lernte ich erst später zu schätzen.
Und das war Lems Lebensprogramm: unter einengenden Umständen für
seine Leserschaft die Moderne in all ihren erschreckenden Facetten einzuholen
und in Literatur zu übersetzen, ob diese Leserschaft das nun unbedingt
zu schätzen wusste oder nicht.
Dieses
Lebensprogramm hatte, sozusagen logischerweise, seinen Ausgangpunkt in dem
Wissen um systematischen medizinischen Massenmord. Die Utopie der Moderne,
die medizinische Utopie vom gesunden Körper, und – noch viel wichtiger
– dem darin angeblich wohnenden gesunden, weil vernünftigen, Geist,
ist tatsächlich eine Utopie, deren politische Dimension die Ärzte-Nazis
mit ihrem Phantasma eines gesunden Volkskörper mörderisch verwirklicht
haben.
Die
Kenntnis dieses Grauens, das er in seinem depüt Roman verarbeitete,
hat Lem befähigt die Abgründe moderner Fiction hinter möglicherweise
mit guten Absichten entwickelten technisch/wissenschaftlichen Phantasien
zu sehen und zu beschreiben.