International Association Against Psychiatric Assault
c/o Lawyer/Rechtsanwalt André Raeber, Hinterbergstrasse 24, 6312 Steinhausen, Schweiz/SwitzerlandThe association is a Human Rights organization that opposes psychiatric coercion and aims to abolish psychiatric coercive measures altogether, promoting the fundamental rights of self-determination, liberty, and human dignity.
Schrei,
wenn du kannst,
auch ohne Echo
Von
Wolf-Dieter Narr
Der
anhaltend-aktuelle Skandal
psychiatrischer Gewalt in der Hilfsmaske.–Was
machen wir Bürger mit denen, die nicht so sind wie wir, deren Leistungswert
sie industriell ökonomisch, WDN – unbrauchbar macht; wofür
sind sie da und wie gehen wir mit ihnen um? (Klaus Dörner, 1988,
S.8)
Wieviele Schuppen, werde ich mir wieder neu vor die Augen kleistern,
weil ich meine, sie für meine Handlungs- und vor allem Behandlungsfähigkeit
zu benötigen (K.Dörner, 1988, S.63).I.
Sprachverkehrung, Sprachverlust und Sprachherrschaft
Soziale und personale Wirklichkeit klassenförmig mit sprachlichen Mitteln
aufzuteilen, hebt mit der umfassenden und feinverästelten Unterscheidung
zwischen dem an, was als “normal” und dem, was als “anormal”
gilt. Lebenschancen und Lebensqualitäten werden entsprechend zugeordnet.
In der Zweiteilung “normal”-“anormal” bestätigen
und verstärken sich, mit Widersprüchen durchsetzt, allgemein verbreitete
Bewusstseins- und Umgangsformen, Vor-Urteile, staatlich gesatzte Rechte und
vom staatlichen Gewaltmonopol gedeckte und durchgesetzte Maßnahmen.
Das, was als “normal” gilt, wird in der Regel – mit erheblichen
Unterschieden je nach Herrschaftsform – von der überwiegenden Mehrheit
der staatlich verfassten in einer Region zusammenlebenden Menschen nachhaltig
vertreten (darüber hinaus je nach Zeit von einem mehr oder minder geschlossenen
Kultur- und Herrschaftskreis, beispielsweise “den westlichen Ländern”
oder der “(westlichen) Zivilisation”). Normalität wird zur
Norm (und umgekehrt). Sie teilt gesellschaftliche Wirklichkeit in ein Ordnungsschema.
Dieses Ordnungsschema herrscht. Es wird allen, die in seinem Rahmen leben
und aufgeherrscht: durch Sozialisationsmuster; durch rechtliche Regeln; durch
Lebenschancen, die mit Hilfe eines Netzes positiver und negativer Sanktionen
ausgelegt und verknüpft werden.Gerade, weil Normalität/Norm durchgehend prekär sind, sich grenzverwischen
und dauernd in einander übergleiten, gerade weil sie ´künstlich´
sind und den jeweils herrschenden Interessen am ehesten entsprechen, sind
wiederholtermaßen drei Vorgänge zu beobachten:
– die Naturalisierung von “Normalität” und “A-Normalität”
zum einen;
– zum anderen ihre diskriminierende Zweiteilung: akzeptierte Normalität
hier, diskriminierte A-Normalität dort;
– zum dritten, ihre klare und eindeutige Geschiedenheit: allenfalls eine enge,
einwegige Hängebrücke führt von der normalen zur anormalen
Seite und zurück..
Sprachlich und im Alltagsverhalten gehört “man”, als bezeichne
diese Umstand ein eigenes Verdienst , der ebenso “natürlichen”
wie divers herrschenden Normalität an. Wer in dieser “Normalität”
nicht mitkommt, wer herausfällt, wessen Verhalten den normalen Standards
nicht genügt, der ist als Mängelwesen für sein Mangelverhalten
selbst schuld. Diese Schuld beginnt mit der Geburt. Sie wird außerdem
in vorgeburtliche Anlage- oder Erbfehler rückprojiziert. Diese wiederum
wird in Richtung des gesellschaftlichen Werdegangs vorprojiziert. Entsprechend
wird sie oder er behandelt. Strafen stehen im Hintergrund. Sie werden individuell
von den A-Normalen selbst verschuldet. Die beiden Qualitäten der A-Normalität
und der A-Normalen, ihre naturale Begründung und (Selbst-)Verschuldung
heischen danach, die Normalität von ihnen zu entkoppeln. Die Eigenarten
und Angehörigen “normalen” Daseins haben prinzipiell nichts
mit dem Elend und den Elenden dieser Welt zu tun (s. Pierre Bourdieu u.a.
1997). Mit diesen drei Annahmen panzert sich alles, was “normal”
herrscht – unbeschadet der großen Unterschiede im Rahmen dieser Herrschaft
-, gegen all das Anormale. Dieses wird ausgeschlossen und dadurch erst zur
A-Normalität. Sieht man genauer hin, ergründet man sich in der eigenen
anormalen Normalität selbst, grinst die “Schule der Möglichkeiten”
(Kierkegaard) angstvoll aus allen Gründen und Abgründen der Normalität
in uns selbst und rund um uns selbst. Bürgerliche ´Normalität´
ist angstgetragen (hier finden sich übrigens auch der erste Grund allen
Antisemitismus und der Fremdenangst allgemein). Die Angst, man könne
jederzeit in die Grube fallen; jederzeit selbst wie ein halb oder ganz Ausgeschlossener
behandelt werden; man befinde sich schon, was menschen- und gesellschaftstümlich
immer zutrifft, mit einem Viertels-, einem halben oder einem Dreiviertels-Bein
im Krankenhaus, der psychiatrischen Anstalt, dem Pflegeheim, dem Gefängnis,
dem Abschiebelager u.ä.m. Orte, die ihrerseits normal/anormal in zulässige
und unzulässige Aufenthalte geschieden werden. Je näher diese Orte
in und außer uns rücken, desto mehr werden sie negativen Utopien
jenseits der Normalität gleich entfernt.Dort, wo die (geschaffen/gegebenen) A-Normalitäten wenigstens seit Beginn
der Moderne am meisten ängstigen und darum am meisten normalitätsstrotzend
ab- und ausgegrenzt werden, abgewehrt, ausgeschlossen und unterdrückt,
gelangt man in ein immer erneut eingezäuntes Gebiet. Dieses trägt
das Warnschild “Geistes- oder psychisch krank”. Nicht von ungefähr
kommt es, dass dieses Gebiet schon an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
in europäisch-angelsächsischen Landen im Prozess der kapitalistisch-etatistischen
Zivilisation zum einen als totale Kontroll-Institution außerhalb gesellschaftlicher
Normalität eingerichtet worden ist. Keine Nähe sollte das schwierig
machen. Zum anderen regten gerade die weggerückten, die gesellschaftlich
ver-rückten “Geisteskranken” dazu an, utopisch perfekte Gesellschaften
praktisch vorwegzunehmen. Das berühmte Panoptikum Benthams machte den
Anfang. Die Eugenische ´Bewegung´ (!) seit Mitte/Ende des 19.
Jahrhunderts mit ihrem nazistischen Höhepunkt bildet die Mitte. Die Humangenetische
´Bewegung´ unserer Tage trägt einstweilen die rote Laterne.
Wie lässt sich eine Gesellschaft auf dem Weg zum Glück all ihrer
Mehrheits-Individuen einrichten – im Lateinischen: ihrer Atome – , die alle
Krankheiten, A-Normalitäten und vielleicht sogar das Alter vermeiden
lässt? Dieses Versprechen des großen Descartes aus dem 3. Discours
de la Methode mitten in der kriegsumschlungenen Barock ziert den Leitpfad
der Moderne und ihre Sucht nach der unerträglichen Leichtigkeit des Seins
seither. Pharma, Medizin, perfekte Sicherheiten aller Art sollen´s möglich
machen. Die Art, wie die “Randgruppe” “Psychisch Kranke”
– rechtstaatlich – ausgegrenzt, organisiert und traktiert wird, kann darum
wie ein schaffender Spiegel der Normalität, ihrer Normen und ihrer sprachverräterischen
Wirklichkeitskonstruktionen gebraucht werden.Wie viel hat sich in der post-nationalsozialistischen BRD getan, seitdem mit
denjenigen, die in die fast beliebig weit- und verengbare Gruppe der “Geisteskranken”
abgeschoben wurde, keine tödlichen Experimente mehr durchgeführt
werden und nicht mehr auf medizinische Weise getötet werden darf (s.
Robert Lifton 1986). Freilich: der nationalsozialistische Umgang hatte nicht
nur seine tief ins 18. und 19. Jahrhundert zurückreichenden zivilisatorischen
Wurzeln. Vielmehr bestimmte er lange noch in seinen psychiatrischen Hauptvertretern
und seinen Anstalten das bundesdeutsche Geschehen mit. Psychiatrische “Vergangenheitspolitik”
bedeutete – wie für die Gründerjahre der Bundesrepublik allgemein
(vgl. Norbert Frei 1996) – wenig mehr als die weitgehende Amnestie der gerade
noch mörderisch tätigen, wissenschaftlich “unbescholtenen”
Täter. Mit ihr verband sich die Fortsetzung von Recht und Praxis psychiatrischer
Gewalt mit flacherem Profil. Heute, am Beginn des neuen Milleniums, so könnte
man meinen, liest man rechtliche Bestimmungen, blättert in Lehrbüchern
und Gutachten, beobachtet die insgesamt geschrumpften geschlossenen Anstalten
und deren ´Krankenbehandlung´, hat sich fast alles zum grundrechtlich-liberaldemokratisch
Besten verändert. Die Sprache indes verrät, auch wenn sie die Tarnkappe
der Hilfe, anderer “humanitärer Interventionen” über die
Ohren von Recht, Psychiatrie als Wissenschaft und Umgang mit “Geisteskranken”
hat ziehen lassen (vgl. insgesamt trefflich Thilo von Trotha 2001).
– An erster Stelle steht nach wie vor die medizinisch wissenschaftliche Täuschung.
Die Psychiatrie des Als Ob gibt vor, “wissenschaftlich” – und das
heißt in ihrem Fall interessefrei und unpolitisch – präzise bezeichnen
zu können, was das abweichende Verhalten beispielsweise derjenigen ausmacht,
die gerichtlich einen Vermund verpasst erhalten, sprich, die entmündigt
werden. Der genauen Diagnose gemäß verspricht die Psychiatrie therapieren
zu können. Von selbst versteht sich: strikt und exklusiv zum “Wohl
des Betreuten” (siehe BGB § 1996).– Indem sie ihre eigene Objektivität behauptet, vom staatlichen Gewaltmonopol
garantiert, objektiviert die Psychiatrie in ihren herrschenden Varianten nicht
nur die Menschen zu potentiell und aktuell unmündigen Hilfsfällen,
die sie in ihre Fänge bekommt. Vielmehr besteht ihre gesellschaftlich
nicht weiter thematisierte Hauptaufgabe darin, die gesellschaftlichen Probleme
zu individualisieren, die in abweichenden Verhaltensweisen von Menschen zum
Ausdruck kommen. Diejenigen, die in unverrückter Normalität verrückt
werden, sind, versteht sich, selbst schuld. Selbst-Leiden infolge von Gründen,
die im Selbst liegen, nicht Leiden an der und durch die Gesellschaft, so lautet
die psychiatrische Verfassungsprämisse. Sie wird allenfalls rationalisierend
zur Disposition gestellt.– Mit der existentiellen Definitionsmacht ihrer von keinem Gericht überprüfbaren
Gutachten einerseits und mit apparativen, vor allem pharmakologischen Eingriffen
andererseits werden psychiatrische Diagnose und Therapie zur (fast und nicht
selten faktisch) totalen Institution, selbst wenn ihre “Probanten”
nicht in geschlossenen Anstalten inkarzeriert sind. Hierbei ist zu beachten,
dass psychologisch/psychiatrische Gutachten und Behandlungswirkungen weit
über die Psychiatrie im engen Sinne hinausreichen. Das gesamte Strafrechts-
und Gefängniswesen, das durch eine Fülle anderer Faktoren mit bestimmt
wird, wird fast durchgehend, das heißt in jedem einzelnen Straf- und
Haftfall von psychologisch/psychiatrischen Experten in nicht selten lebensentscheidenden
Graden beeinflusst. Nicht nur überlappen sich geschlossene Psychiatrie
und Haftanstalten im Falle einer Verurteilung nach den §§ 20 und
21 StGB (Zustand der Schuldunfähigkeit in vollem oder vermindertem Umfang).
Entsprechende Normen gelten für die psychiatrischen Krankenhäuser
(§§ 63 und 64 StGB). Sie tun es vor allem in der neuerdings ausgeweiteten
“Sicherungsverwahrung”, die nach verfassungsgerichtlich bestätigter
Täuschung angeblich keinen Strafcharakter besitzt (s. §§ 66
und 66a StGB; vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie 2004). Psychiatrie
als Profession und Institution ist an ihren entscheidenden Gelenkstellen von
Norm, Profession und Praxis gewaltverknotet.– In der nachnazistischen und der Nach-Gulag-Psychiatrie wurde zweifelsohne
in der BRD und anderwärts gelernt. Darum stellen sprachliche Änderungen
auch nicht nur einen symbolischen und in diesem Sinne täuschenden Psychiatrie-Herrschaftstrick
dar. Auch Foucault´s wohlbegründetes, geradezu umfassendes Misstrauen
kann in der Irre führen. Dass sublimere Regelungen, Ausdrucksformen und
Techniken nur eine umfassend feinsinniger gewordene Herrschaft darstellten.
Das psychiatrisch gespannte Rechtsnetz, das mit staatlich geborgten Zwangsspangen
zusammengehalten wird und die ihm entsprechenden institutionellen Praktiken
demonstrieren jedoch, wie wenig in der psychiatrischen Profession insgesamt
von der nie bewältigbaren, jedoch vorwärts vermeidbaren Schuld “tödlichen
Mitleids” (Dörner 1988) gelernt worden ist. Ein rares Ergebnis der
nationalsozialistischen Erfahrung war am Beginn der BRD die konstitutive Normierung
der Grund- und Menschenrechte als “unmittelbar geltende Rechte”
(mit auf die staatlichen Institutionen begrenzter Bindekraft. Vgl. Art 1 Abs
3 GG). Diese Grund- und Menschenrechte wurden jedoch von Anfang an und werden
heute im Zeichen des Sicherheitswahns, auch im Rahmen der Psychiatrie und
ihres Rechtskranzes als Einstiegsrechte psychiatrisch-gerichtlich-behördlichen
Schutzes umfunktioniert. Damit “Personen”, wie es im “Gesetz
über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG
MRW)vom 17. Dezember 1999” beispielsweise in § 1 heißt, “bei
denen Anzeichen einer psychischen Krankheit bestehen, die psychisch erkrankt
sind oder bei denen Folgen einer psychischen Krankheit fortbestehen”,
“Schutzmaßnahmen durch die untere Gesundheitsbehörde”
angeordnet werden können – “Hilfen” genannt -, “soweit
gewichtige Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung oder eine Gefährdung
bedeutender Rechtsgüter anderer” bestehen. Im 2. Absatz des ersten
Paragraphen heißt es dann lichtvoll: “Psychische Krankheiten im
Sinne dieses Gesetzes sind behandlungsbedürftige Psychosen sowie andere
behandlungsbedürftige Störungen und Abhängigkeitserkrankungen
von vergleichbarer Schwere.”II.
Die Psychiatrisierung des Menschen als Gewaltvorgang
Nur neun Stationen will ich markieren. Ich verzichte darauf, obgleich
dies vonnöten wäre, die psychiatrische Mikropolitik, Mikroökonomie
und Mikrogewalt in die angemessenen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge
zu stellen. Die Mikrophysik psychiatrischer Gewalt ist mit der Makrophysik
neoliberaler Staatsgewalt auch über den Staat hinaus zu vermitteln.1. An der Gewalt so hängt, zur Gewalt hin drängt doch schließlich
– psychiatrisch – alles. Das ist der psychiatrische Zirkel als Gewaltzirkel
oder als eigentümlicher circulus vitiosus. Alle Probleme, die psychiatrische
Konzepte und Praktiken bis heute bereiten und, nimmt man menschliche Freiheit
und Integrität ernst, bereiten muss, haben im Gewaltkern ihren Ursprung
und ihr Ende. Wie anders sollte man sich gegen gegenseitige Hilfe unter Menschen
kehren? Wie anders sollte man in dicht und zugleich abstrakt vergesellschafteten
Kontexten, wie sie heute gegeben sind, institutionalisierte Hilfsvorkehrungen
von vornherein ablehnen? Wie anders sollte man übersehen, dass manche
Hilfeleistungen besonderer Kompetenzen bedürfen, die Personen gelten,
die mit der konkurrenzhaft organisierten A-Sozialität ´unserer´,
in diesem Sinne negativen Gesellschaften aus diversen Gründen nicht klar
kommen?2. Psychiatrische Gewalt ist geborgte, ist aller Hilfe radikal fremde Gewalt.
Eine solche wurde in der Psychiatrie aufgehoben, will sagen dem Anscheine
nach medizinisch beseitigt, sprachlich nach allen Regeln der Kunst vertuscht
und zugleich, mit diesen Tarnkappen versehen, mehr oder minder sublim aufbewahrt.
Geborgt hat Psychiatrie ihre Gewalt vom staatlichen Monopol legitimer physischer
Gewaltsamkeit ( die Dauerspannung und folglich die Dauerkonflikte des Gewaltmonopols
zu menschenrechtlich-demokratischen Verfassungsnormen sind in anderen Zusammenhängen
zu erörtern). Schwerwiegender noch: Psychiatrie stellt ein Konnexmonopol
staatlicher Gewalt dar. Diese Eigenschaft stellt nicht nur ihre wissenschaftliche,
wahrheitsverpflichtete Fundierung von Grund auf in Frage. Psychiatrie ist
bestenfalls eine “praktische Wissenschaft”, wie Kant sie verstanden
hat, also eine von vornherein staatlichen Diensten zuhandene, instrumentell
zugespitzte ´Wissenschaft´. Darüberhinaus werden der psychiatrische
Hilfsanspruch, also seine therapeutische Qualität ausgehöhlt. Psychiatrische
Diagnose- und Therapiereichungen dienen als Instrument, eigenartig “A-normale”,
vielmehr als solche Bezeichnete und Ausgesonderte, auszusortieren und stillzustellen
(wenn nicht, wie 12 Jahre in Deutschland inmitten einer vor- und nachschattenden
Kontinuität lang: “ausmerzen”, gemäß dem schlimmsten
Verbum aus dem “Wörterbuch des Unmenschen” oder der LTI = Lingua
Tertii Imperii vgl. Klemperer 1969 und Klemperer 1995). Das aber, was zwangsindividualisierte
menschliche Normalität darstellt wird pseudowissenschaftlich am Modell
des “erbgesunden Menschen” ausgerichtet. Diese Nazi-Passpartout
teutonisch verrückter Art feiert im Zuge der Humangenetik und Eugenik
längst wieder fröhliche Urständ.3. Diagnosegewalt 1.”Kofler, Notizen. Das freundliche Verhalten der meisten
Psychiater zu ihren Patienten ist eine Mystifikation, denn die zur Schau getragene
Freundlichkeit basiert auf keinem wirklichen Interesse an der Kommunikation
mit dem Patienten. Der Psychiater, der der Ansicht ist, dass es sich bei der
Psychose um eine organische Störung handelt, ist an inhaltlichen Mitteilungen
des Patienten sowenig interessiert wie etwa ein Techniker an den Resultaten
eines technisch gestörten Computers interessiert ist. Wenn er mit dem
Patienten redet so nur, um herauszufinden, ob eine Störung vorliegt.
Da der Patient kein Computer ist, muss er ein Interesse an ihm heucheln. Das
aber wird von dem Patienten bemerkt und als ein Moment bewertet, ihn weiterhin
durch Täuschung verrückt zu machen, denn das kennt er aus seiner
bisherigen sozialen Umgebung” (Kipphardt 1988, S.75). Sind Heinar Kipphardts
Beobachtungen, die er einer Romanfigur in den Mund legte, heute in den ungleich
“aufgeklärteren” Zeiten überholt? Kaum! Wenn nicht qua
technologisch, pharmakologischem Fortschritt im Gegenteil! Das Subjekt von
Anamnese und Therapie, der Psychiater, seinerseits Subjekt im Sinne des Unterworfenen
der Psychiatrie und ihrer professionellen und ökonomischen Institutionalisierung,
tritt dem Patienten nicht als ein gleichrangiges Subjekt gegenüber. Letzterer
wird zum Objekt. Anders müsste von Subjekt zu Subjekt “auf Augenhöhe”
mit gleichen Karten gespielt und riskiert werden. Das kann und darf weder
zeitlich, dem psychiatrischen Konzept, noch vor allem der psychiatrischen
Funktion nach der Fall sein. Sonst könnten manche gesellschaftlichen
Normalitäts-Ver-Rückungen dringend erforderlich sein. Die menschlich-menschenrechtliche
Ver-Rücktheit der Normalität träte hervor.4. Diagnosegewalt 2. Seit Jahrzehnten bin ich als “Freiwilliger sozialer
Helfer” in Haftanstalten tätig. Sogenannt Lebenslängliche sind
mein Plaisir. Einen derselben, bald drei Jahrzehnte hinter vergitterten Fenstern,
fast mein eigenes, fortgeschrittenes Alter, traf ich jüngst mehr als
üblich verwirrt an. In drei- oder schon vierjährigem gelegentlichem
Umgang mit ihm, verstehe ich seinem krausen Humor nicht immer, hochintelligent
wie er ist. Dieses Mal kam ich, von Satzfetzen abgesehen und meinerseits krausen
Assoziationen überhaupt nicht mit. Obgleich ich ihn dringend ob seiner
bald anstehenden psychiatrischen Begutachtung sprechen wollte und immer erneut
mit ´seriösem´ Haltzeichen unterbrach, blieb erfolglos. Darum
stand ich auf, was ich ansonsten, Gespräch abbrechend, nie tue, um über
die diversen Kontrollstellen und hohe eisenstangige Tore durch den Ausgang
zu entfleuchen. Demnächst wird also ´mein´ Ller, so die übliche
Abkürzung, von einem renommierten Psychiater begutachtet werden. Das
ist der übliche Vorgang. An allen Gelenkstellen lebenswichtiger Bedeutung,
die über Haft und Freiheit entscheiden, treten Gutachter auf den Strafvollzugsplan.
Diese verstärken die enorme Willkür, die die totale Institution
Haftanstalt durchwest und deren peinliche Durchrechtlichung eigenartig aufhebt
und funktionalisiert. Meine folgenden Fragen sollen darum nicht den Anschein
erwecken, als akzeptierte ich die Funktion, die der Dunst, das Schmier- und
Legitimationsöl der Gutachten spielen. Ich will nur unter der Prämisse
der Gutachten zeigen, wie diese an einem Fall illustriert u.a. zustande kommen.
Wird der Gutachter im Fall des Inhaftierten, um den ich mich besonders sorge,
genügend Zeit haben, sich um das inkarzerierte Wirrsal zu kümmern?
Wie ich höre, muss er allein in dem Gefängnistrakt, in dem ich zugange
bin, in nächster Zeit ca. ein Dutzend Gutachten fertigen. Wird er, da
er den “Ller” im Knast besucht – dieses Verhalten von Psychiatern
werde ich nie verstehen, es demonstriert indes die frohgemute Partnerschaft
in Monopolgewalt -, auch in der Lage sein, das, was das lange Gefängnishausen
meines seltsamen, nahfernen Freundes angeht und seine Wirkungen auf ihn, herauszufinden?
Wird er dies überhaupt tun wollen? Wird er erkennen, wie sehr die Wirrnis,
zuweilen auch mit manchen aggressiven Splittern gemischt – nie gegen mich
gerichtet, wohlgemerkt – vor allem dem absurden System der Freiheitsstrafe
über bald 30 Jahre geschuldet ist? Dass es also höchste, nämlich
letzte Zeit ist, die im Leben des “Llers” nicht wiederkehrt, diesen
bald Mitte-sechzig-Jährigen endlich auf freien Fuß zu setzen? Meine
Skepsis ist ohnmächtig groß. Nicht nur, weil ich andere Gutachten
des bekannten und in seiner Weise tüchtigen Kollegen mit erheblichem
Bauchweh über seine Art gelesen habe, “verknastete” Menschen
zu diagnostizieren und ihre Zukunft vorherzusehen. Welche Wirklichkeiten und
eigene Grenzen werden psychiatrisch gar nicht erst wahrgenommen! Nicht nur,
weil die knappe ´Ökonomie der Zeit´ und der übliche
Diagnoseort, auch das von vornherein feststehende, schiefgewichtige, ja hierarchisch
gewaltgeladene Subjekt-Objekt-Verhältnis allen so tätigen Psychiatern
und Psychologen kaum genügend eigene Freiheitsgrade in Diagnose und Prognose
geben. Mich ängstigt vor allem, wie wenig dieser mir persönlich
nicht bekannte Kollege offenkundig daran interessiert ist, dem psychiatrisch
fast unvermeidlichen Wirklichkeitsverlust zu entgehen, indem er, beispielsweise
mit mir, vertraulich und unverbindlich Kontakt aufgenommen hätte – ich
habe ihm solches vergebens angeboten. Diese kleine, für ´meinen´
Ller freilich lebensentscheidende Geschichte erzähle ich in wenigen Ausschnitten
nur deshalb, weil sie die Diagnose-(Therapie-) und Prognoseverfehlung psychiatrischen
Umgangs mit problembehangenen Menschen demonstriert. Auch, wohlgemerkt, die
riesige, jedoch schier unverantwortliche Gewalt dieser so feinsinnigen Profession.
Der Strafvollzug und schon die Strafverfahren zuvor werden insgesamt durch
die Einmischung der Psychiatrie/Psychologie in aller Regel in ihrer ohnehin
prekären Rechtssicherheit verschmiert. Die psychiatrischen Gutachter
werden, ob sie es persönlich wollen oder nicht, zu einem Teil der Haftanstalt.
Dieser verletzt die Integrität der Inhaftierten ungleich mehr als deren,
zunächst ´äußerlich´ bleibende repressive Vorkehrungen.
Verweigert sich ein Inhaftierter den ein- und zudringlichen Gutachtern, weil
er deren fragwürdigem ´Innenblick´, menschenrechtlich angemessen,
misstraut, dann schwinden seine Chancen, den Knast zu verlassen. In diesem
Sinne bedeutet die Gutachterei eine Strafvermehrung, die in jeder Weise Grund-
und Menschenrechte verletzt.5. Hilfszwang. Das machen die diversen PsychKGs der bundesdeutschen Länder
in geradezu zentralstaatlicher Geschlossenheit kund, was ähnlich in den
Regelungen der Vormundschaft, der freiwilligen Gerichtsbarkeit und anderwärts
auftaucht: dass, wie ich oben schon aus § 1 des nordrhein-westfälischen
PsychKG zitiert habe, Personen, “bei denen Anzeichen einer psychischen
Krankheit bestehen” und Gefahren für sich oder andere vermutet werden,
die Eigenschaft verlieren, die sie erst zu Personen macht: ihre selbstbestimmte
Freiheit. Die Pauschalität mit der “Selbstgefährdung oder eine
Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer” Zwangsmaßnahmen
und Zwangseingriffe erlauben, spottet, strikt rechtsimmanent betrachtet, aller
rechtssicheren Berechenbarkeit. Die sonst monstranzhaft hochgehaltenen Grundrechte
werden als vernachlässigbare Größe nicht einmal mehr erwähnt.
So dies doch geschieht, dann werden sie so unverbindlich angeführt, dass
sie auch in der sowjetisch-stalinistischen Verfassung von 1936 hätten
stehen können. O ihr “unmittelbar geltenden Rechte”! Fast alle
gesetzlich einschlägigen, psychiatrietriftigen Normierungen können
nicht anders bezeichnet werden, als Ermächtigungsgesetze der Behörden
und dafür kompetent gehaltenen Professionen, der Psychiatrie an erster
Stelle. Diese können fast tun, was sie wollen. Sie müssen allein
die Maschinerie der angemessenen Rationalisierungen richtig anwerfen.6. Gewalt macht den Begriff der Krankheit krank. Die Zustände der Menschen,
die sie zwangsversorgen lassen sollen, werden mit so vagen Etiketten bezeichnet,
dass fast alle Verhaltensweisen dazu psychiatrisch passend gemacht werden
können. Sammelbezeichnungen a la “Psychosen” oder “psychische
Störungen” eröffnen einen schier unbegrenzten psychiatrischen
Definitionsraum. Dieses fast grenzenlose Ermessen gilt auch für den entscheidenden
Schluss des Gewalteinsatzes: Selbst- und Fremdgefährdung. Es findet sich
in den PsychKGs und den anderen einschlägigen Formulierungen rechtlicher
Fangnetze a la Betreuung, Mündigkeit und Gerichtsbarkeit nicht einmal
der Versuch, genauer zu spezifizieren, an Hand welcher Indizien und mit Hilfe
welcher Methoden und Verfahren geschlossen werden darf, dass eine Person als
“psychisch krank” erklärt werden könne. Gleichermaßen
fahndet man vergebens danach, wie Selbst- und Fremdgefährdung erkannt,
eingeschätzt und die ausweisbaren ´Erkenntnisse´ zu entmündigenden
Konsequenzen verbunden werden. Alles, aber nahezu alles spielt sich im kompetent-dunklen
Schoss der Psychiatrie und der ihr zuhandenen Ämter ab. In diesem Definitionszusammenhang
spielt Herrschaft in sprachlichen Formen mit gewalttätigen Folgen ein
Mehrfachpassspiel. Menschen, die sich in den Kanon der Normalität(en)
nicht einzufügen vermögen, haben nicht selten Schwierigkeiten sich
auszudrücken. Diesen Ausdrucksschwierigkeiten tritt die Psychiatrie als
Vertreterin des Gewaltmonopols mit großen sprachlichen Fangsäcken
gegenüber. Negative Betroffene wie andere Beobachter oder gar Kritiker
werden in der Regel schon sprachlich mit Hilfe der hanebüchen vagen psychiatrisch-medizinischen
Terminologie schachmatt gesetzt . Ihrer sind die Krankheits-, ihrer sind die
Gefährdungsbegriffe. Schließlich vermag sie je nach Anamnese den
“psychotischen” Sack mit einem Band, das “Gefahr !leuchtet”,
zuzubinden und zur Behandlung fortzuschreiten. Sie kann den Sack einstweilen
auch herunterziehen und den Patienten rundum selbst- und mitbestimmungslos
einstweilen von dannen schicken. Wird bei “physischen” Erkrankungen
prinzipiell wenigstens noch die Eigenbestimmung der Bürgerpatienten unterstellt,
wenngleich der bürokratisch-medizinisch-technologische Komplex dagegen
funktioniert, so sind die sogenannt psychisch Erkrankten von vornherein ihrer
Selbst- und Mitbestimmung selbst dort enteignet, wo sie ihnen formell zugestanden
wird. Sehen sie nämlich ihre Probleme und die angeblichen Gefahren anders,
die sie darstellen, die von ihnen angeblich ausgehen, als die Wahrheit sprechende
und praktizierende Psychiatrie, dann zeigen sie damit, wie krank sie sind
und welche Gefährdung für sich und andere sie darstellen. Das Alpha
und Omega der “psychisch Kranken” stellt die Psychiatrie als Instanz
des staatlichen Gewaltmonopols dar, nicht die Personen, denen sie angeblich
helfen will und soll. Die Psychiatrie schaff sicht ihre Kranken. Schlimmerweise
handelt es sich nicht um eine Schaffung aus dem Nichts. Die Kreation geschieht
mit lebendigem menschlichen “Stoff”. Die Person ist entmündigt
worden, schon bevor der entsprechende (Un-)Rechtsakt erfolgt.7. Was nützt der ´an sich´ zentrale Artikel 2 des Grundgesetzes,
in dem die wichtigste menschenrechtliche Norm formuliert ist? “(1) Jeder
hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit
er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige
Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist
unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen
werden.” Verstoßen diejenigen, die als “psychisch krank”
zwangsetikettiert werden, gegen das – ungeschriebene und historisch wandelnd
gerichtsfestgelegte “Sitten-gesetz”? Sind die diversen zwangspsychiatrisch
einschlägigen Gesetze der Ausdruck des Gesetzesvorbehalts wie er am Ende
des 2. Absatzes einigermaßen paradox statuiert worden ist? Auf der einen
Seite soll “die Freiheit der Person” “unverletzlich” sein.
Auf der anderen Seite darf in sie “auf Grund eines Gesetzes” je
nach Gusto parlamentarischer Mehrheiten eingegriffen werden. Wird das Grundrecht
des Artikels 2 GG nicht in seinem “Wesensgehalt” berührt –
das ist nach Art.19 Abs.2 GG ausgeschlossen -, wenn wenigstens in dreifacher
Weise mit psychiatrischer Gewalt in die Integrität der “psychisch
krank” Erklärten eingegriffen wird? In der Form von Gutachten, in
denen eine integre Person zum Objekt wird und mit einer psychischen Krankheit
pauschal etikettiert wird, zum ersten. Zum zweiten in der Art des gewalttätigen
Festhaltens in einer dahingehend nach wie vor totalen Institution, mögen
auch die Zwangsanstalten früherer Tage aufgelöst sein. Notfalls
wird gefesselt. Notfalls werden die Türen verriegelt. In der Verabreichung
von Drogen a la Psychopharmaka u.ä., gar der Verwendung anderer, angeblich
therapeutisch nötiger Techniken a la Elektroschockbehandlung. Heiner
Kipphardt alias “März” redet in diesem Zusammenhang von einer
“Konkurs-situation der gewöhnlichen Anstaltspsychiatrie” (Kipphardt
1988, S.96). Diese Konkurssituation besteht bis heute über den gewalttätigen
Begleitschatten hinaus darin, dass die angeblich “psychische” Krankheit
mit mehr oder minder unmittelbar physischen Mitteln traktiert wird. In diesem
Widerspruch hebt sich die Psychiatrie als “wissenschaftlich” begründete
Praxis geradezu selber auf.8. Von der psychiatrisch ausgelegten Schlinge war schon die Rede, in der sich
jede und jeder fangen muss, der bedürftig in näheren Kontakt mit
der Psychiatrie als einer Institution kommt oder schon gezwungen wird. Sie
ist in der Kennungsliste psychiatrischer Gewalt jedoch noch einmal eigens
zu nennen. Ein gesundheitsbehördlich oder von dritter Seite als psychisch
gestört erkannte (Noch-)Person will sich nicht behandeln lassen. Nach
psychiatrischer Logik lautet die Folge: gerade diese mangelnde Einsicht belegt,
wie weit der Zustand der Krankheit fortgeschritten ist. Selbstbestimmung ist
erkenntlich ausgeschlossen. Gleiche Schlüsse werden psychiatrielogisch
gezogen, will sich jemand, entsprechend etikettiert, nicht in einem psychiatrischen
Krankenhaus halten oder sich nicht mit den wundersamen Heilmitteln spritzen
lassen. Die Eingriffsgewalt verletzt die Integrität des Menschen im dritten
Fall in besonderem Masse, weil die Effekte der verabreichten Pharmaka von
der im Hinblick auf die psychiatrisierten Objekte, bestenfalls Nicht-mehr-ganz-Personen,
geradezu prognosetrunkene Psychiatrie im Hinblick auf ihre eigene Tätigkeit
nicht vorhergesehen werden oder die Prognose keinerlei Rolle spielt.9. Gewalt erhöhende Kooperation von Psychiatrie und Judikative. Die Dritte
Gewalt, die Judikative, ist im Rahmen der Staatsverfassung dazu da, im Fall
der BRD des Grundgesetzes, darüber zu wachen, dass Legislative und Exekutive
die Gesetze verfassungsgemäß verabschieden und anwenden. Im Rahmen
von Psychiatrie und Recht/Judikative wird aus der Kontrolle, die zuweilen
auch wechselweise gelten kann, eine Verstärkung der Gewaltwirkung dieser
beiden Monopoleinrichtungen. Die Judikative ist in Gefahr – viele Fälle,
die die Aussage ´in der Regel´ zulassen, bestätigen diese
-, sich ihre Rechtsfindung von psychiatrischen Gutachten vorgeben zu lassen.
Darunter leidet die strikte Auslegung des grundrechtlichen Selbstbestimmungsprinzips
aller Menschen. Krankheits- und Gefahrendia- und prognosen psychiatrisieren
gleichsam das personale Selbstbestimmungsprinzip, den Eckstein aller Grund-
und Menschenrechte. Geschehen kann es auch, dass Gerichte, insbesondere im
Rahmen von Strafverfahren, Gutachten dazu missbrauchen, um klar und eindeutig
zu identifizierende Tatbestände mit allen möglichen (d.h. gerichtlich
unmöglichen) Tätervermutungen und Täterpsychologemen aufzuweichen
oder deren Mangel in Indizienprozessen zu beheben. Strafrechtliche Änderungen,
wie beispielsweise schon der nazistische Mord=Mörderparagraph 211 StGB,
die das Strafrecht mit moralischen Vor-Urteilen durchsetzen und die Meinungen
und Intentionen Angeklagter in die Anklage und Urteilsfindung einbeziehen,
arbeiten dieser lichtdunklen Mischung zuungunsten der Angeklagten zu.. Das
psychiatrisch einschlägige Recht strotzt vor unbestimmten Rechtsbegriffen.
Dementsprechend dehnt sich die gerichtlich allenfalls zusätzlich sanktionierte
Gewalt der Psychiatrie (trotz vieler neuerer Entwicklungen nach wie vor zutreffend:
Walter Kargl 1977. Siehe dort auch das Lob des Urteils des OLG zu Leipzig
vom 14. Juli 1902. Dieses hob die Entmündigung Dr. jur. Daniel Paul Schrebers
auf. Die vom Gericht nicht bezweifelte “Geisteskrankheit” rechtfertige
für sich genommen keine Internierungsmaßnahme oder Entmündigung.
Wörtlich: “Die gegen den Willen des Patienten auftretenden Tobsuchtsanfälle
sind kein hinreichender Grund für die Entmündigung des Patienten.”
Kargl kommentiert u.a.: “..in den folgenden 75 Jahren – sie muss man
heute auf über 100 Jahre ausdehnen, WDN – (habe) die deutsche Rechtssprechung
niemals mehr den liberalen Stand der damaligen Schlussfolgerung, das unverkennbare
Ethos hinsichtlich der ´Freiheit der Person´” erreicht. “Das
OLG Dresden hatte jenen Hiatus zwischen dem Wahnsinn als m e d i z i n i s
c h e m Problem und der Einsperrung als j u r i s t i s c h e m Problem gesehen;
es hatte aus seinem Misstrauen gegenüber der obligaten Gleichsetzung
von Internierung und Behandlung keinen Hehl gemacht, es hatte im Dilemma der
´therapeutischen Zwangsbeglückung´(Dörner) für
das kranke Individuum Stellung bezogen und sich nicht aus der eigenen Verantwortung
entlassen, es hatte Schrebers gestörte Menschlichkeit und deren Ringen
nach Wiederherstellung in seltener Einfühlung ernst genommen.”).10. Zusammenfassung: kleines Urteil über die Gewalt-/Zwangspsychiatrie
samt Empfehlung. Dass die Psychiatrie und ihre Vertreterinnen und Vertreter
so sind wie sie sind, dass sie den Bruch zur nazistischen und zur viel tiefer
reichenden eugenischen Vergangenheit samt ihren wandelnden, jedoch allemal
herrschaftskonformen Normalitätsschemata nicht radikal vollzogen haben
– das gilt mit entsprechenden Veränderungen auch außerhalb der
BRD -, liegt selbstredend nicht an der Psychiatrie als Institution und ihren
professionellem Kranz primär. Das hat Ursachen in der BRD und weit darüber
hinaus Ursachen im politisch-staatlich organisierten Kapitalismus zwischenzeitlich
global erstreckter Art. Hier will ich jedoch nicht in die Ferne schweifen,
wo das menschlich, gesamtgesellschaftlich und menschenrechtlich demokratisch
Gebotene so nahe liegt. Wollen diejenigen, die Psychiatrie in einem weiten
Sinne als ihren Beruf betreiben, diesem ihrem Beruf irgend gerecht werden,
der mit Hilfe für Menschen wie jede Psychiaterin und jeden Psychiater
selbst angeht und mit Hilfe für solche Menschen wie uns selbst endet,
dann können sie dies nur tun, wenn sie sich ohne Wenn und Aber, tatsächlich
radikal, nämlich mit allen Wurzeln ihres Berufs von allem Zwang lösen.
Erst dann haben sie sich selbst zur Hilfe emanzipiert und legitimiert. Der
Probleme, Unwägbarkeiten und Risiken sind genug: indes erst mit der Freiheit
von Zwang, der Anerkennung der Selbstbestimmung des Menschen, auch wo er wie
wir alle Normalitätsmängel in einer mängeldurchsetzten Normalität
zeigen mag, wird so etwas möglich wie eine dann qualitativ anderer Beruf
der Psychiatrie. Sie hätte die Antipsychiatrie ein Gutstück in sich
aufgehoben. Solange diese Utopie keinen Ort in der Wirklichkeit gefunden hat,
gilt menschenrechtlich der Kampf gegen die Gewalt-/Zwangspsychiatrie. Kompromisse
kompromittierten nur die Menschenrechte und diejenigen, die ihrer bedürfen,
die Menschen, die Ärmsten der Armen, die Mühseligsten der Mühseligen
am meisten. Diese aber stehen an der Spitze praktischer Menschenrechte weit
über allem Staat.III. Psychiatrie
und Folter
Weil Normalität herrscht, weil sie nicht zuletzt mit Zwangsmitteln herrscht,
werden diejenigen, die ihr nicht entsprechen, die ihr sogar widerstehen, spracharm
und öffentlich unwirksam gehalten. Darum durchziehen Kämpfe um Sprache
und Öffentlichkeit auch die neuere Geschichte, wenn nicht ohnmächtig
zur Gegengewalt geflohen wird. Diese allgemeine Beobachtung gilt besonders
für diejenigen, die der Psychiatrie als Teil staatlichen Gewaltmonopols
ausgesetzt sind und dieser Aussetzung widerstreben. Um gegenwärtig überhaupt
gehört zu werden, haben darum Freundinnen und Freunde von mir nicht zuletzt
im Zuge der neuerlich bekannt gewordenen Folterfälle regierungsamtlich
gedeckter, wenn nicht erzeugter Art von Frankfurter Polizeipräsidenten
bis amerikanischen Soldaten im Irak – von der ´strukturellen´
und aktuellen Folter in Guantanamo und in ´normalen´ innerstaatlichen
Gefängnissen der westlich “zivilisierten” Welt zu schweigen
-, auf die Ähnlichkeiten, wenn nicht Ana-Logien, sprich gleiche Behandlungslogiken
von Folter und zwangspsychiatrischer Behandlung aufmerksam gemacht. Indem
sie dies taten und tun, wollen sie mit gutem Grund auf den unter anderem bundesdeutsche
Normalität gewordenen Skandal aufmerksam machen, den fast alle von uns
unterschiedlich ´Normalen´ mühelos ertragen. Den oben etwas
näher beschriebenen (s. II.) Skandal der psychiatrischen Zwangsbehandlung,
Verletzung, Manipulation und Erniedrigung von Menschen in Nöten. Und
diese Zwangsbehandlung mitten unter uns, die als Wissenschaft und Praxis ihr
gutes Renommee und ihr fröhliches Auskommen haben, wird hingenommen:
weil – wie schon eingangs geschildert – die (pseudo-)wissenschaftliche Definitionsmacht,
vom staatlichen Gewaltmonopol bestätigt und verlängert, im Dominanzinteresse
der “normalen” Gesellschaft liegt und (fast) unser aller Ängste
auch und gerade vor unseren eigenen Abgründen hemmt.
Dieses Bestreben, die selbstverführerische und falsch legitimierende
Hilfsmaske abzureißen, die menschenrechtliche Doppelmoral oder die gespaltenen
Menschenrechte von fast allen von uns darzutun, vertrete ich selbst und unterstütze
es nachdrücklich. Ich will darum zum komplexen Thema dieses Abschnittes
“Folter und Psychiatrie” einige wenige, eher stichwortartige Anmerkungen
anfügen. Eine ausführlichere Auseinandersetzung, die ich vorgesehen
hatte, muss ich aus Platz- und Zeitgründen entfallen lassen.1. Gerade weil das, was Sprache und ihre Ausdrücke aktuell bezeichnen,
gesellschaftlich geschaffen und überkommen sind und sich, wie jede Gesellschaft
verändern, sollte man Begriffe, will man gegenseitige Verständigung
gewährleisten, möglichst genau benutzen und nur dann verändern,
wenn dies gegen die Konvention vonnöten ist – wie andere sprachliche
Sachverhalte bis zur gegenwärtig im Deutschen umstrittenen Rechtsschreibung.2. Das heißt nicht, dass vielfach zu eng gebrauchte Begriffe, nicht
immer wieder geweitet werden müssten (oder zu vage formulierte, was in
Sachen Grund- und Menschenrechte allzu oft der Fall ist, präziser fassen).
Die herrschende Konvention, die wir alle meist zunächst qua Aufwachsen
in einer Sprache (oder deren fremdsprachiges Lernen) vorbewusst übernehmen,
kann die Sprache so zugerichtet haben, dass sie viele, herrschaftlich störende
Phänomene nicht wahrnehmen lässt oder nur wie bittre Pillen in versüßter
Form erkennbar macht. Darum ist die Herrschaft nicht nur mit Hilfe der Sprache,
sondern über die Sprache, darum sind die “Formeln der Macht”
so allgemein. Darum ist es für das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung
aller Menschen so wichtig, herrschaftssprachliche Ausdrucks- und Verdeckungsverhalte
zu durchschauen.3. Wie eingangs schon angeritzt, ist die Herrschaft qua Sprache gerade im
Umkreis der Psychiatrie im besonderen und des staatlichen Gewaltmonopols im
allgemeinen strukturell und aktuell gegeben. Darum hat beispielsweise Michel
Foucault neuerdings – vor dem Hintergrund vieler vorgängigen Kritiker
– zu recht, den Machtbegriff ausgeweitet. Er hat gezeigt, dass Machtprozesse
und Machtkämpfe in allen möglichen Bereichen gerade mitten in und
durch die Wissenschaften und ihre Zeichen und Sprache geübt wird. Er
hat – “genealogisch” -verfolgt, wie Herrschaft sich im Riesenbereich
von gesellschaftlicher Formierung von Sexualität und Wissen entwickelt
und nicht mehr erkenntlich ist, wenn man nur auf aktuelle Einrichtungen starrt.
Er hat im engeren Bereich der Psychiatrie aufgedeckt, in welchem Ausmaße
sich deren Kontrolle ausdehnt, indem anscheinshaft ihre Mittel sublimer werden.
Ähnlich hat vor Jahrzehnten Johan Galtung den Begriff der “strukturellen
Gewalt” geprägt. Dessen Gebrauch begründete zeitweise sogar
Berufsverbote. Mit diesem Ausdruck wollte er darauf aufmerksam machen, dass
geschichtliche entwickelte Strukturen und Institutionen, die wir alle wie
selbstverständlich hinnehmen, wie lange die Differenzen zwischen den
Geschlechtern oder bis heute zwischen “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern”,
zwischen “Reichen” und “Armen” oder Formen staatlicher
Sicherung und Gewalt, nicht nur gesellschaftlich ´gewählt´
sind und spezifischen Interessen sich verdanken. Diese “Gegebenheiten”
haben auch zur Folge, dass den allgemein vertretenen Menschenrechten weithin
das soziale und ökonomische Fundament fehlt.4. Betrachtet man, so vorbereitet, das Thema “Psychiatrie und Folter”,
dann wird bei genauem Hinsehen deutlich, wie viele Analogien zu beobachten
sind. Darum ist es zu einem guten Teil berechtigt, der psychiatrischen Gewalt
die Folterschelle umzuhängen. Damit endlich hören kann, wer noch
Ohren hat, zu hören, was im Zusammenhang psychiatrischer Gewalt menschenrechtswidrig
geschieht. Während die Folter, die meist nur “die anderen”
üben, fast allgemein als “zivilisationswidrig” verdammt wird,
während “absolute” Folterverbote mit Ausrufezeichen vertreten
werden, lebt die – glücklicherweise – große Mehrheit derjenigen,
die Folter eindeutig und klar verdammen, ´gemütlich´ mit
alltäglicher, aber eben randständiger, wissenschaftlich und anstaltsförmig
“seriös” abgekapselter psychiatrischer Gewalt. Freilich, obwohl
uralt, ist der Folterbegriff nicht eindeutig. Weitgehende Übereinstimmung
herrscht nur darin, dass die Folterer, meist in direktem oder indirektem staatlichen
Auftrag handeln(oder dem Auftrag einer etablierten Herrschaft a la Katholische
Kirche im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit). Sie fügen
den Menschen, die sie foltern im wörtlichen Sinne
u n s ä g l i c h e Schmerzen hinzu (vgl. insbes. Elaine Scarry 1986).
Sie verbinden mit diesem grausamen Sadismus, der die Gefolterten zu leidensfähigen
Objekten degradiert – noch über die Sklavenbehandlung als stimmbegabte
Instrumente hinaus -, das Verlangen, dass die Gefolterten in welcher noch
möglichen Lautform immer, sich als irgendwelche Sünder oder Täter
selbst bezichtigen oder eine Sache oder andere verraten oder Ähnliches.
Hierbei zeigen die Untersuchungen von Folterern und Gefolterten, dass diese
Auskünfte, derethalben angeblich gefoltert wird – um dringende Gefahren
abzuwenden etwa oder einen Täter wie in Frankfurt jüngst aufzufinden
-, weithin irrelevant sind, von ihrer fragwürdigen Stimmigkeit zu schweigen.
Primär ist die in diesem Falle wahrhaft totale Machtausübung über
einen Menschen oder in kollektiver Folterfolge über eine Menschengruppe.
Darum auch die Rolle von Foltern in den KZs und in den sowjetischen Lagern.
Primär ist die systematische Erniedrigung, die Entmenschlichung der Gefolterten,
die auf die Folterer als entmenschlichte Sieger zurückwirkt. Weil, wenn
nicht der physische, so doch der soziale Tod angestrebt wird, ist es den überlebenden
Opfern meist unmöglich wieder irgend “normal” in einem unproblematischen
Sinne des Worts zu werden. Besteht der Herrschaftskern, mit Hegel etwas vormodern
ausgedrückt, im Verhältnis Herr-Knecht/Magd, das sich dann im Herrschaftsapparat
versachlicht – und zwischen den Herren und Knechten/Mägden bestehen Wechselbeziehungen,
so strukturell ungleich die Befehls- und Gehorsams-, die Leistungsverteilung
sind -, so besteht der Folterkern in der radikalen Aufhebung aller Kommunikation,
ein humanes, wenigstens minimal wirksames Wechselverhältnis ist nicht
mehr gegeben. Folterer und Gefolteter sind beides Menschen und zugleich schier
reine sadistische Täter und reine Opfer (die Interpretation dieser zwangsweisen
Nichtbeziehung geschieht bei überlebenden Opfern verschieden; vgl. etwas
Jean Amery einerseits, 1980 und Primo Levi andererseits: 1988 und 1988; zum
Folterbegriff siehe insgesamt Edward Peters 1985).5. Psychiatrisch-medizinische Instrumente werden in Folterungen häufig
eingesetzt. Das allein macht jedoch noch nicht deren allzu nahe Parallelen
aus. Psychiatrische Zwangsgewalt objektiviert die “psychisch Kranken”
gleicherweise. Sie ist es, die die “Krankheit” des psychiatrisch
Ausgesetzten definiert und sie als unentrinnbare Lebendfalle konstruiert.
Psychiatrie übt einseitige, staatlich-öffentlich beliehene Gewalt
aus. Die Integrität des “krank” Unterworfenen wird ohne zureichende
Grenze verletzt. Das Ziel des grossen Asklepios, die restitutio in integrum,
der Wiederherstellung menschlicher Unversehrtheit erscheint vorgeschoben.
Damit das Ziel, die Wiederherstellung der Integrität, bestehen könne,
darf die Integrität nicht irreparabel verletzt, darf die Selbstbestimmung
nicht aufgehoben werden.6. Könnte ich genauer vergleichen, könnte ich, so weh das einem
selbst tut, weil man solche Fälle nicht ´unbeschädigt´
an Leib und Seele auskundschaften kann, Folteropfer und Opfer psychiatrischen
Zwangs in einzelnen Etappen der Objektivierung und der Entmündigung untersuchen,
dann träten einige Parallelen noch deutlicher hervor.IV. Einige
wenige, schlagsatzartige Schlussfolgerungen:
Die Zwangspsychiatrie ist abzuschaffen – mit allen nicht gewaltförmigen
Mitteln, sofort1. Das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen ist uneingeschränkt zu wahren.
Ohne Selbstbestimmung sind alle Würde- und Unversehrtheits- und Freiheitsformeln,
die die Grund- und Menschenrechte durchziehen, nichts anderes als hölzerne
Eisen. Menschenrechte sind als aktive Rechte zu begreifen. Menschenrechte
sind nicht etwas, das man staatsgnädig oder auch staatsrechtlich erhält,
sondern etwas, das jeder Mensch selbst mitbestimmen und mitschaffen können
muss. Hierbei versteht sich unter Menschen von selbst, dass auch Selbstbestimmung
riskant ist und bleibt. Sie kann nicht absolut versichert werden. Sie darf
jedoch auch bei Irrtümern, Fehlverhalten u.ä.m. nicht und nie aufgehoben
werden. Es sei denn man entmensche Menschen übermenschlich.2. Zwang von irgendeiner Institution und ihren Vertretern ist unzulässig.
Kein kleiner Finger des Zwangs darf gegeben werden. Die selbstbestimmte und
allein durch Selbstbestimmung mögliche Freiheit, die jeden Menschen erst
zur Person werden lässt, darf nicht von anderen Menschen zwangsbegrenzt
werden. Freiheit besteht bis zum Selbsttod. Dieser unbedingten Selbstbestimmung
entspricht ein “positiver” Freiheitsbegriff, der den anderen wie
sich selbst wahrnimmt (hierin besteht das größte Problem in Gesellschaften
wie den gegenwärtigen, in denen ein negativer Freiheitsbegriff, der ideologisch
liberal – neoliberale, im Sinne der Willkür- oder Ellbogenfreiheit dominiert).
Aus dieser notwendigen Korrespondenz zum anderen folgt das Postulat durchgehender
Mitbestimmung in den sozialen Kontexten, die jeden einzelnen bestimmen. Daraus
folgt zusätzlich, dass es sozialer, wiederum mitbestimmter Vorkehrungen
bedarf, wenn einzelne andere gewalttätig gefährden. Solche Vorkehrungen
sind aber nicht in Form von Zwangseinrichtungen und Zwangsmassnahmen nötig
und zulässig.3. Das, was an gegenwärtigen psychiatrischen Hilfsangeboten akzeptabel
sein könnte, ist nur akzeptabel in einer qualitativ veränderten
Psychiatrie. Diese geht radikal ohne Zwang vor. Das ist die Herausforderung
von Hilfeleistungen, dass sie erbracht werden müssen, ohne letztlich
oder, wie psychiatrisch nicht selten, erstlich mit dem gewalttätigen
Zwangsinstrument drohen und arbeiten zu können. Eine vom Zwang emanzipierte
Hilfe, die darum auch herrschende Normalität nicht als unbefragten Kanon
hinnehmen kann, muss selbstredend auf alle geschlossenen Institutionen und
Zwangsvollzüge verzichten. Der Hilfsraum ist immer so zu gestalten, dass
er Eigenräume erlaubt.4. Keines der einschlägigen Gesetze im Hinblick auf die sogenannt psychisch
Kranken ist zu halten. Auch dort, wo neuerliche Gesetzesvorschläge erfreulicherweise
die Selbstbestimmung jedes einzelnen uneingeschränkt betonen, fehlen
die Konsequenzen in den nachrangigen Institutionen. Es fehlen auch folgenreiche
Überlegungen dazu, welcher sozialen und demokratischen Voraussetzungen
es bedarf, damit jede Person auch tatsächlich selbst bestimmen könne.
Nicht nur ist jeder Vorgang der Hilfe, um den jede Person selbst ersucht,
die sich hilfsbedürftig fühlt, so zu organisieren, dass durchgängig
Mitbestimmung garantiert ist; vielmehr darf keine Hilfe etwa in Form von Pharmaka
verabreicht werden, die nicht ihrerseits von der Person gewollt wird, die
sie ´nimmt´. Zureichende Aufklärung ist jeweils unabdingbar.5. So sehr Selbstbestimmung das Alpha und Omega aller Hilfe darstellt, so
sehr kommt es darauf an, die Person, die Hilfe will und braucht, nicht allein
zu lassen. Angesichts des heutigen medizinisch-bürokratisch-ökonomisch/technologischen
Komplexes bleibt der Rekurs auf das Selbstbestimmungsrecht abstrakt, wenn
nicht ein Doppeltes geschieht. Zum einen sind die riesigen Komplexe weitgehend
zu entflechten und zu kommunalisieren. Koordinierende Instanzen oberhalb der
lokalen Ebene bleiben erforderlich. Zum anderen ist die gesamte Organisierung
der Hilfen – von unten nach oben mitbestimmt – so anzulegen, dass der einzelne
nie vereinzelt wird. Er oder sie kann, soll und muss selbstbestimmen. Sie
oder er haben jedoch auf allen Ebenen Bezugspersonen, die ihnen zu helfen,
die sie notfalls zu vertreten vermögen. Die bürokratische Logik,
die bei erheblichen Größenordnungen unvermeidlich triumphiert,
ist keine der Hilfe. Hilfe zur Selbsthilfe setzt voraus, dass das Selbst qua
entsprechenden sozialen Bedingungen sich entwickeln und agieren kann. Außerdem
ist es schon ein Akteur der Hilfe und nicht deren dann vergebliches Ergebnics.Schrei, wenn
und solange du kannst. Die am Ende aufgelisteten Postulate, die erst noch
konkret organisierend zu übersetzen wären, klingen unter den gegenwärtigen
Bedingungen nahezu illusionär. Dies ist der Fall, obwohl sie nur Mindeststandards
setzen. Das ist die Lage. Dennoch sind die grundsätzlichen, jeweils konkret
zu verwirklichenden Forderungen, nicht zu verwässern. Sie zeigen nur
die Mühe, die es macht, die Ängste, die in der Normalität stecken,
abzubauen. Eine Pluralität der Normalitäten, aufs innigste, aufs
menschenrechtlichste zu wünschen, setzt diesen Angstabbau voraus. Dieser
Abbau der Ängste erst, die in der herrschenden Normalität stecken,
befreit zu gegenseitiger Hilfe befreit. Sonst gilt weiterhin, Mauern bauend,
Gewalt und Zwang übend die Angstschweiß treibende Devise: Fürchte
den Nächsten wie dich selbst (s. Parin/Morgenthaler/ Matthey-Parin 1975).
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–—- Wolf-Dieter
NarrWolf-Dieter
Narr, Jg. 1937, lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für Politische
Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
Von seinen zahlreichen Engagements seien nur ein paar erwähnt:
1971 gründete er u.a. mit Heinrich Albertz und Helmut Gollwitzer
das Iran-Komitee. 1978 war ernach
dem Russell Tribunal zu den Berufsverboten in der BRD,
an dessen Jury er beteiligt war, einer der Mitgründer und zeitweise
Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.
Das Komitee begreift als seine Hauptaufgaben, einerseits aktuelle
Verletzungen von Menschenrechten kundzutun und sich für diejenigen
einzusetzen, deren Rechte verletzt worden sind (z.B. sogenannte Demonstrationsdelikte,
Justizwillkür, Diskriminierung, Berufsverbote, Ausländerfeindlichkeit,
Totalverweigerung, Asyl- und Flüchtlingspolitik), andererseits
aber auch Verletzungen aufzuspüren, die nicht unmittelbar zutage
treten und in den gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen
angelegt sind (struktureller Begriff der Menschenrechte). Als Mitorganisator
des Foucault Tribunals zur Lage der Psychiatrie wurde
er 1998 vom Präsidenten der FU gemahnt. 2001 wurden ihm als Veranstalter
des Russell Tribunals zur Lage der Menschenrechte in der Psychiatrie
und von Geist gegen Gene sogar unter verlogenem Vorwand
auf Druck der FU Zwangspsychiatrie die reservierten Räume in
der FU von deren Präsidenten verweigert!Wolf-Dieter
Narr ist Mitherausgeber von »Bürgerrechte und Polizei«.
Einige seiner zahlreichen Publikationen: Theoriebegriffe + Systemtheorie.
Staatliches Gewaltmonopol, bürgerliche Sicherheit, lebenslange
und zeitige Freiheitsstrafe. Globalisierung des Terrors. Weltökonomie
– die Misere der Politik. Zukunft des Sozialstaats – als Zukunft einer
Illusion?