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International Association Against Psychiatric Assault

c/o Lawyer/Rechtsanwalt André Raeber, Hinterbergstrasse 24, 6312 Steinhausen, Schweiz/Switzerland

The association is a Human Rights organization that opposes psychiatric coercion and aims to abolish psychiatric coercive measures altogether, promoting the fundamental rights of self-determination, liberty, and human dignity.

JOURNAL
der INTERNATIONAL ASSOCIATION AGAINST
PSYCHIATRIC ASSAULT
Nr. 3 – Oktober
2006
Zwangsbehandlung
ist ein Verbrechen II

Kritik
an der Entscheidung des BGH vom 01.02.2006 ( XII ZB 236/05)

Prof.
Wolf-Dieter Narr


1. Keine Grundlage für einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit
aus dem Gesetz
Der
BGH unterstreicht die hohe normative Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 GG. Und
doch unterläuft er den starken Schutz der Integrität des Menschen.
Er behauptet, das Recht des Betreuers den von ihm Betreuten notfalls entgegen
dessen geäußertem Willen zwangsweise unterzubringen, impliziere
konsequenterweise, dass der Betreuende zusätzlich erneut gegen den
Willen des Betreuten in diverse Formen der von Ärzten oder medizinischem
Personal ausgeübten Zwangsbehandlung einzuwilligen vermöge. Dies
sei rechtens. Diese Annahme ist mehrfach rechtsfehlerhaft. Sie arbeitet
zum einen mit der Annahme einer implikativ gegebenen Ermächtigung.
Diese ist aber rechtlich formell und grundrechtlich substantiell unzulässig.
Sie verkennt zum zweiten die fundamentale Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 GG
insbesondere in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und mit Art. 19 und
20 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 104 Abs. 1 GG. Art. 2 Abs. 2 GG kann als dauernd
gültige, personal bezogene norma normans von einer norma normata nur
in genau festgelegten Ausnahmen zeitlich und sachlich punktuell durchbrochen
werden. Das heißt zugleich, dass der Gesetzesvorbehalt, durch einfache
Gesetze zu verrechtlichen, nicht nur substantiell im Sinne der Wesensgehaltsklausel
begrenzt auszuführen, sondern auch prozedural-formell festzulegen ist.

Zum
ersten:
weil die Integrität der Person als unmittelbar geltendes
Menschenrecht höchsten Verfassungsrang besitzt, darf in diese Integrität
äußerstenfalls nur eingegriffen werden, wenn rechtlich genau, notfalls
durch abschließende Kasuistik explizit statuiert wird, wann, warum,
wie und von wem mit welchen Mitteln ausnahmsweise die Integrität einer
Person vorübergehend und im Einzelfall verletzt werden darf. Mit anderen
Worten: an einzelgesetzlich ausgeführte Vorbehalte entgegen der kategorischen
Geltung des Grundrechts auf die Integrität jedes einzelnen sind die äußersten
Anforderungen an Präzision und der durchgehenden,

Unbestimmte
Rechtsbegriffe, vage Vermutung von Kompetenzen in Richtung Medizin u.ä.m.
sind hier nicht zulässig. Sonst handelte es sich von vornherein
um ein gesetzeswidriges Gesetz.


vorab geltenden Berechenbarkeit zu stellen. Die Allgemeinheit des Gesetzes
ist in diesem Falle nur zulässig, indem keine Person vorab diskriminiert
wird. Die Allgemeinheit des Gesetzes ist grundrechtswidrig, wenn im vorstehenden
Fall eine betreuende Person, ein Arzt, eine Person des Pflegepersonals einer
Krankenanstalt, die erwiesene Willensunfähigkeit bzw. seinen nachgewiesenen
selbstzerstörerischen akuten Zustand vorausgesetzt, entscheiden kann,
ob eine Zwangshandlung vorgenommen werden kann und wie sie erfolgen darf.
Dass der BGH sogar soweit geht, medikamentöses Experimentieren zu erwägen
und zuzulassen, zeigt wie sehr sich das hohe Gericht auf die Gleitfläche
des Zwangs und medizinischer, professioneller Stellvertretergesundheit für
den Betreuten eingelassen hat. Als könnten sich, Professionalisierung
und Fürsorge hin oder her, irgendeine Institution und deren kompetente
Vertreter die Kompetenz anmaßen, die Gesundheit eines anderen Menschen
in ihrer umfassenden Integrität körperlich und psychisch-geistig
zu repräsentieren, sprich: zu vergegenwärtigen. Kurzum: wenn der
Gesetzgeber wollte, dass an einem betreuten Menschen, der infolge der Entscheidung
des Betreuenden zwangsweise in eine Anstalt eingewiesen worden ist, sei es
ambulant, oder gelte die Verweildauer längere Zeit, medizinisch professionell
ausgeübte Zwangseingriffe in seine Integrität vorgenommen werden
dürfen, dann müsste er dies nicht nur zum einen explizit beschließen.
Der Gesetzgeber müsste außerdem das Gesetz und die Handhabung des
Gesetzes distincte et clare festlegen. Unbestimmte Rechtsbegriffe, vage Vermutung
von Kompetenzen in Richtung Medizin u.ä.m. sind hier nicht zulässig.
Sonst handelte es sich von vornherein um ein gesetzeswidriges Gesetz.

Zum
zweiten:
immanent im Duktus des BGH-Urteils verbleibend wurde unter „Zum
ersten“ unterstellt, unter Umständen sei nach entsprechend deutlichem
und klarem Gesetz, das also die Rechtssicherheit des Grundrechtsträgers
der Person entgegen allen präventiven Verwässerungen radikal ernst
nimmt (s. dazu Luhmann: Das System des Rechts, 1994), ein hochgradig voraussetzungsvoller
Zwangseingriff in die Integrität von Menschen möglich, wenn zugleich
vorausgesetzt wird, eine andauernd kontrollierte, prinzipiell öffentlich
einsehbare, institutionell ausgewiesene und detailliert geregelte Prozedur
sei gewährleistet. Diese Unterstellung widerspricht dem Grund- und Menschenrecht
auf eine rundum geltende Integrität des Menschen und den damit notwendig
verbundenen grund- und menschenrechtlichen Konnexnormen. Wie dies für
die meisten anderen Grund- und Menschenrechte gleichfalls mutatis mutandis
zutrifft, können Grund- und Menschenrechte im Unterschied zur klassischen
Tradition ihrer ersten Formulierung Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur als
„individuelle Abwehrrechte“ verstanden werden. Ein solches Verständnis
– genetisch aus der frühliberalen, anti-absolutistischen Genese erklärbar
– setzt nicht nur die sozioökononomischen und psychologisch-politischen
Bedingungen voraus, die es erst ermöglichen, dass Menschen ihrer Grund-und
Menschenrechte bewusst werden und über die Mittel verfügen, sie
wahrzunehmen (so sind schon die modifizierten Fassungen der Menschenrechte
der Menschenrechtserklärung der UN von 1948, ihre Ergänzung durch
die Sozialcharta 1966 und ihre ergänzende Kritik durch afrikanische und
lateinamerikanische Staaten zu verstehen; vgl. auch die einschlägigen
Diskussionen anlässlich der letzten weltweiten Menschenrechtskonferenz
zu Wien von 1993). Kurz, der menschenrechtliche Normgeber und die einer menschenrechtlich
fundierten Verfassung folgenden Gewalten sind gehalten, für die gesellschaftlichen
Voraussetzungen menschenrechtlicher Praxis zu sorgen, damit Menschen die ihnen
qua ihrer Menscheneigenart zugesprochenen, vielmehr die aus ihrem Menschsein
erwachsenen Rechte wahrnehmen. Darüber hinaus lässt eine abwehrechtlich
restringierte Auffassung nicht begreifen, dass Grund- und Menschenrechte als
Aktivrechte jeder Person auszulegen sind. Darum ist die Koppula zwischen Menschenrechten
u n d Demokratie keine, die mehr oder minder willkürlich zwei einander
zufällig begegnende Phänomene aneinander anhängt.

Keines
der zentralen Menschenrechte ist von vornherein für alle Zeiten, Länder
und Personen übergreifend, also für alle geschichtlich in spezifischen
Kontexten lebenden Menschen, denen sie gelten, eindeutig und klar gegeben.
So zentral der Anspruch der Menschenrechte ist, universell für alle Menschen
aller Zeiten und aller Orte zu gelten, so sehr entsprechen die Menschenrechte
erst dann ihrem individuell, auf jede Person geeichten Sinn, wenn der Kontext
beachtet wird und Menschenrechte kontextgemäss vermittelt werden, in
denen konkrete Menschen verletzlich leben. Das aber heißt über
den allgemeinen politischen Auftrag hinaus, die jeweils möglichen und
nötigen sozialen Bedingungen zu schaffen, das, was die Menschenrechte
auf Integrität, Würde und Freiheit jeweils spezifisch bedeuten,
kann nur die einzelne Person in ihrem unverwechselbaren Kontext und ihrem
unverwechselbaren So-geworden-Sein bewusst entscheiden. Sie kann ihre Würde
nur dadurch je und je neu erwerbend besitzen, dass sie erstlich und letztlich
exklusiv darüber selbst entscheidet, ob und inwieweit sie ihre Integrität
zu riskieren bereit ist, ob und inwieweit sie, in ihre Integrität eingreifen
lassen will, um eine je und je personal angestrebte restitutio in integrum
zu erreichen. Fast etwas nonchalant stellt der BGH fest, in der Krankenbehandlung
und im Heilungsprozess werde die Integrität des Menschen ohnehin medizinisch
kompetent zur Disposition gestellt. Zutreffend ist daran allein, dass in der
Tat jeder Mensch, der in Nach- oder in Vorsorge gesundheitlichen Rat nachsucht,
der sich in die Obhut eines Arztes, eines Krankenhauses u.ä.m. begibt,
damit seine Bereitschaft erklärt, in seine Integrität eingreifen
zu lassen.

Dass
die Nachsuche nach Hilfe jedoch den personalen Menschenrechten und der frei
selbstbestimmten und darum seine Würde ausdrückenden Integrität
des Hilfe erpichten Menschen entspreche, sind drei Erfordernisse unabdingbar:
zum ersten der Rat und Hilfe suchende Mensch entscheidet, ob, wo und welche
Hilfe er bei wem sucht; zum zweiten: der betreffende Mensch, der insoweit
zum Patienten wird, entscheidet durchgehend letztlich selbst aufgrund etwa
ärztlicher Ratschläge, in welcher Form und in welcher Tiefe er in
seine Integrität eingreifen lassen will. Alle behandelnden Institutionen
und ihre HelferInnen sind gehalten, das Ausmaß, die Art und die möglichen
Effekte des Eingriffs vorab in verständlicher Form, in schweren Eingriffsfällen
im Beisein von Angehörigen und/oder ansonsten vom Bürgerpatienten
gewählten Vertrauten zu erläutern. Pauschale und/oder schwer verständliche
Formblätter reichen dazu nicht aus. Zum dritten: die helfenden Institutionen
und ihre kompetenten Angehörigen sind auf ein Verfahren zu verpflichten,
das den Hippokratischen Eid der heutigen Fülle der kaum noch materiell
fassbaren Eingriffe gemäß ausdifferenziert. Zugleich bedarf es
bei gewichtigen Eingriffsfällen der innermedizinischen Zusatzkontrolle.

Nur
ein (kleines) Kollektiv kann die Entscheidung fällen, die letztlich Vorschlagscharakter
behält und prinzipiell vom Patienten gebilligt werden muss. Die hier
vorgetragene Auffassung des Grund- und Menschenrechts der Integrität
oder der Unversehrtheit des Menschen erhellt aus drei menschenrechtlich essentiellen
Gründen. Zum ersten: dem schlechterdings zentralen Rang des Menschenrechts
auf Integrität. Dieses ist so eng mit dem Menschenrecht auf Freiheit
und dem auf Würde verbunden, dass sich diese menschenrechtliche Königinnentriade
nur vereint und in der dauernden Wechselgeltung verwirklichen lässt.
Zum zweiten: alle Menschenrechte sind nicht wie ein „rocher de bronze“
fest, eindeutig und dauerhaft gegeben. Menschen sind verletzliche Wesen. Sonst
bedürfte es der Normen nicht. Menschenrechte sind dazuhin hochgradig
voraussetzungsreiche und je und je prekäre Notwendigkeiten des Menschen.
Darum müssen sie immer erneut ausgelegt und spezifisch bestimmt werden.
Menschenrechte als wesentliche Erfordernisse/Bedürfnisse jedes Menschen,
um seinen Möglichkeiten gemäß leben zu können, sind letztlich
nur von dem Menschen konkret zu bestimmen, der seine eigene Unversehrtheit
frei und um seiner Würde willen bestimmt und gegebenenfalls gezielt ein
Stückweit preisgibt. Die Universalität der Menschenrechte ereignet
sich so jeweils historisch konkret im selbstbestimmten Tun und Lassen der
einzelnen Person. Sie wird dadurch erst zur ganzen Person.

All
diese nötigen prinzipiellen Feststellungen zur Eigenart der Menschenrechte,
hier des Rechts auf Integrität, besagen, dass es nicht angeht, Menschen
gegen ihren Willen zwangsweise zu behandeln. Sollte nachweislich Gefahr im
Verzug sein, dass Menschen aktuell akut andere Menschen physisch gefährden,
also die Integrität anderer massiv zu verletzen drohen, kann es angemessen
sein, solche Menschen so lange wie unbedingt erforderlich auf die sie schonenste
Weise von anders gerichteten Gewaltakten abzuhalten. Es geht jedoch nicht
an gegen den Willen auch des noch so mit Gewalt gegen andere drohenden Menschen
in dessen Integrität medikamentös oder mit anderen Mitteln mit nie
restlos absehbaren Folgen einzugreifen. Auch der Gesetzgeber, handelt er den
normae normandes der Grund- und Menschenrechte entsprechend, darf kein Gesetz
beschließen, das die Integrität durch Eingriffe in Körper,
Geist und Seele des Menschen mehr als im Sinne äußerlicher Blockade
zu versehren droht.

2. ÖR-Unterbringung
der Verfassungsgericht-Rechsprechung nicht vergleichbar mit der Unterbringung
nach § 1906 BGB, da § 1906 BGB ausschließlich die Interessen
des Betreuten wahrnehmen soll, die Vorschriften des UBG aber auch die Interessen
der Öffentlichkeit (anderer Normzweck)

Die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zum Baden-Württembergischen Unterbringungsgesetz
(BVerfGE 58, 208) ist insgesamt im Zusammenhang des Sach- und Normverhalts
dieses Artikels mit einer erheblichen Einschränkung nicht von Belang.

Das BVerfG insistiert
in seiner Entscheidung, soweit sie der Verfassungsbeschwerde Recht gibt, zurecht
darauf, es sei unabdingbar, denjenigen, der zwangsweise, und sei es noch so
vorübergehend, in eine geschlossene Krankenanstalt verbracht werden solle,
zuvor amtrichterlich anzuhören. „Die formellen Gewährleistungen
der Freiheit in Art. 104 GG“, so begründet es, „stehen mit
der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem
Zusammenhang (…), Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz
3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn (…), indem
er neben der Forderung nach einem „förmlichen“ freiheitsbeschränkenden
Gesetz die Pflicht, dessen Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot
erhebt.“ „Verstöße“, so heißt es weiter, „gegen
die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender
Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Person dar. Durch Art.
104 Abs. 1 GG wird die Beachtung der sich aus dem jeweiligen Gesetz ergebenden
freiheitsschützenden F o r m e n (gesperrt durch d. Verf.) zur Verfassungspflicht
erhoben, deren Erhaltung durch den Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde
abgesichert wird.“

Auch
der Gesetzgeber, handelt er den normae normandes der Grund- und Menschenrechte
entsprechend, darf kein Gesetz beschließen, das die Integrität
durch Eingriffe in Körper, Geist und Seele des Menschen mehr als
im Sinne äußerlicher Blockade zu versehren droht.

Das BVerfG bleibt
aber, sobald ein „förmliches Gesetz“ der Unterbringung gegeben
ist, ansonsten in Sachen der zurecht erhaben profilierten Norm des Art. 2
Abs. 2 zusammen mit Art. 104 GG erstaunlich indolent oder verfährt allzu
sehr nach normativ nicht akzeptablen Konventionen (und seien letztere auch
die berühmte herrschende Meinung). Allzu rasch und allzu pauschal wird
der Schutz des Betroffenen vor sich selber oder für die pauschal bezeichneten
„überwiegenden Belange des Gemeinwohls“ zur Ermächtigungsklausel
einer staatlich-professionellen freiheitsentziehenden Stellvertreterintegrität
bzw. stellvertretenden Integritätsverletzung. Um der behaupteten Integrität
der Person willen wird deren Integrität paradox geschützt bzw. soll
paradox wiederhergestellt werden, indem sie doppelt aufgehoben wird. Die betroffene
Person wird zum einen zwangsentmündigt und zum anderen zwangsverletzt.
Die verfassungsgerichtliche Begründung dieses widersprüchlichen
Verfahrens, das unversehens alle zuvor zurecht unterstrichenen formell-prozeduralen
Erfordernisse außer acht lässt, kann fast nur als argumentatives
Slalomfahren mit nur metaphorisch möglichen steilen Kehren bezeichnet
werden. Da sollen „staatlicher Eingriff“ möglich sein, wenn
er „ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken
vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer
geschlossenen Anstalt unterzubringen.“ Nirgendwo aber findet sich ein
genauer prozeduraler Hinweis, wie es denn die besten, mit edlen Absichten
ausgestatteten Instanzen hinbekommen sollen, „ausschließlich“
den psychisch Kranken vor sich selbst zu schützen. Welche Behörde
kann sich einen solchen Anspruch anmaßen? Es folgen denn die „überwiegenden
Belange des Gemeinwohls“ auf dem Fuß. Was aber heißt jeweils
„Gemeinwohl“, wer bestimmt dasselbe; wer entscheidet vor allem darüber,
dass es entgegen dem Menschenrecht der Person „überwiege“?!
Noch im selben argumentativen Zusammenhang ist dann davon die Rede „bei
psychischer Erkrankung“ werde „die Fähigkeit zur Selbstbestimmung
häufig erheblich beeinträchtigt sein“.

Wer aber stellt
wie wann und wie lange fest, dass die nur kriterienklar herauszufindende „Beeinträchtigung“
Zwangsmaßnahmen entgegen dem erklärten Willen der Person rechtfertige,
deren „Würde“ nach dem ersten Basissatz der Grund- und Menschenrechte
„unantastbar“ ist?! Nachdem das Bundesverfassungsgericht, kaum noch
zeitgemäß, auch noch den „Sozial-staatsgedanken“ angeschleppt
hat, um seine Fürsorglichkeit f ü r die ihrer Freiheit und ihrer
Integrität und ihrer Würde zeitweise beraubte Person zu rechtfertigen
– kaum eine präzise sachdienliche Begriffshuberei -, räumt es ein:
„Wo hier die Grenzen eines zulässigen Eingriffs verlaufen, ist nicht
zu entscheiden“, um mit dem Refrain paradox zu enden, das Unterbringungsgesetz
erlaube die zwangsweise Anstaltsunterbringung ohnehin nur „wenn der Kranke
für sich gefährlich oder ohne Anstaltspflege der Gefahr ernster
Gesundheitsschädigung ausgesetzt“ sei. Es fügt folgenden Satz
abschließend hinzu: „Mit diesen tatbestandlichen Voraussetzungen
wahrt das Gesetz den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit.“
Das Gericht treibt damit nicht nur Schindluder mit dem von ihm selbst wohl
begründet formulierten Grundsatz der Verfassungs-, vor allem anderen
der Grundrechtsinterpretation. Es legt nämlich nicht eigens und in angemessener
Ausführlichkeit dar, wie es nach schwieriger, grundrechtlich dominierter
Güterabwägung zu dem Ergebnis gekommen ist, Zwang gegen eine Person
und deren nicht durch ein Verbrechen gegen andere inkriminierbaren Willen
sei „verhältnismäßig“. Vielmehr geben die Bundesverfassungsrichter
hochgradig umstrittene, von ihnen selbst zuvor in ihrem schwankenden Grund
berührte personale und soziale Verhalte als eindeutige „tatbestandliche
Voraussetzungen“ aus. Mit einem solchen Ebenenwechsel ist es leicht möglich
aus perspektivischen Annahmen, um das arge Wort Vorurteil zu vermeiden, „Tatbestände“
im argumentativen Wunderhut sich transformieren zu lassen.

Im folgenden
Abschnitt versucht das Gericht bleibende Bedenken auszuräumen, „fürsorgliche
Gesichtspunkte“
, von interessierter ärztlicher Kompetenz her
in Anschlag gebracht, könnten exklusiv den „Behandlungszwang“
zur Folge haben. Es betont, dass neben die medizinischen Krankheitsbegriffe
„juristische“
[fett von mir] träten. Genauer medizinische
Krankheitsbegriffe stellten „nur Anhaltspunkte“ dar, um „Geisteskranke
einschließlich Geistesschwacher und Gemütskranker“
auszusortieren.
Wie das aber „rein“ „juristisch“ geschehen soll, wie ein
Richter „zu einer besonders sorgfältigen Prüfung aufgerufen“
feststellen können soll, „ob den festgestellten Störungen
Krankheitswert im Sinne des Gesetzes zukommt“
, bleibt jenseits der
apostrophierten Kommentarliteratur dunkel. Nicht zufällig wird denn ins
herkömmlich pauschale Argumentieren Zuflucht genommen. „Die unbezweifelbare
Notwendigkeit zusätzlicher staatlicher Eingriffsmöglichkeiten ergibt
sich schon aus dem unzureichenden Schutz der Allgemeinheit vor Geisteskranken,
den das Zivilrecht bietet, sie erschöpft sich jedoch nicht im Sicherheitsgedanken…“
Ist das des entmündigenden, entwürdigenden, Unversehrtheit verletzenden
mit Zwang wedelnden Pudels Kern? Ist das aus den unmittelbar geltenden Grund-
und Menschenrechten geblieben, sodass Allgemeinaussagen wie die folgenden
– und das bundesverfassungsrichterlich, vom Hüter der Grundrechte – möglich
werden:
„Die Gesetzeslage ist demnach von einer nicht erschöpfenden bundesrechtlichen
Regelung geprägt, die auch durch den von der Rechtsprechung gebilligtem
weiten Anwendungsbereich der sogenannten „Zwangspflegschaft“ gemäß
§ 1910 Abs. 3 BGB keine grundsätzliche Änderung erfahren hat.“
Und wenig später trotz dem argumentativen Aufwand zuvor: „Die
Annahme des dringenden Verdachts auf eine die Unterbringung rechtfertigende
Gemütskrankheit ist schon angesichts der ärztlichen Stellungnahme
von Verfassungswegen nicht zu beanstanden
(war oben vergebens von „juristischen
Bestimmungen“ die Rede ?, d. Verf.). Die abschließende Beurteilung
des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers konnte dem Verfahren über
die endgültige Unterbringung überlassen bleiben.“
Sic transit
gloria normarum hominum.

Pragmatische
Lösung ohne Pendant im GG

Nach den vorgetragenen Argumenten muss der Schluss mutmaßlich nicht
mehr genauer erläutert und aus den Grund-und Menschenrechten begründet
werden:
eine pragmatische Lösung im üblich legeren Sprachgebrauch des Adjektivs
„pragmatisch“ ist dort nicht möglich, wo die Geltung der Grund-
und Menschenrechte in Frage stehen. Und dies in ihrer Spitzennorm, der norma
normans, die alle anderen fundiert und durchdringt: der habeas corpus-Akte,
dem Menschen- und eben nur sekundär staatlich gegebenen Grundrecht auf
Integrität oder mit dem schönen deutschen Wort: der Unversehrtheit.
Für dieses Menschenrecht gilt durchgehend und bis ins Detail die Vermutung.

Dieser Text
wurde von Wolf-Dieter Narr am 21. 4. 2006 verfasst und uns zur Verfügung
gestellt. Teile davon wurden bereits in der Abhandlung von Wolf-Dieter Narr
und Thomas Saschenbrecker, “Unterbringung und Zwangsbehandlung”
in der FamRZ Heft Nr. 15 vom 15. 8. 2006 veröffentlicht.

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