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International Association Against Psychiatric Assault

c/o Lawyer/Rechtsanwalt André Raeber, Hinterbergstrasse 24, 6312 Steinhausen, Schweiz/Switzerland

The association is a Human Rights organization that opposes psychiatric coercion and aims to abolish psychiatric coercive measures altogether, promoting the fundamental rights of self-determination, liberty, and human dignity.

JOURNAL
der INTERNATIONAL ASSOCIATION AGAINST
PSYCHIATRIC ASSAULT
Nr. 3 – Oktober
2006
Der
Gegensatz von Vernunft und Menschenrechten

Sylvia
Zeller, René Talbot und Frank Wilde

Auf
der Grundlage der Kritik der Aufklärung und des modernen Vernunftsbegriffs
wollen wir der Frage nachgehen, in welchen Punkten sich Gegensätze
zwischen den Menschenrechten und der Vernunft ergeben. Gemeinhin wird beides
gleichgesetzt. Dagegen: Adorno/Horkheimer sprechen von der “Unmöglichkeit,
aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen,…”
.
Foucault spricht zumindest bezogen auf den französischen Vernunftsbegriff
von “Folter ist Vernunft”. Gerade die Diskussion um den
Fall Daschner hat gezeigt, dass es vernünftige Gründe für
Folter geben kann. Sind die Argumente für ein grundsätzliches
Folterverbot nun einfach “vernünftiger” oder gilt es auf
einer anderen (nicht religiösen) Basis die Vernunft zu begrenzen und
Menschenrechte für unantastbar zu erklären?
Dieser Konflikt zeigt sich besonders im täglich praktizierten Feld
der psychiatrischen Zwangsbehandlung, in der auf der Basis der Vernunft
Menschenrechte massiv genommen werden.

Was
ist die Bedeutung eines Wortes?

Der Gegensatz von Vernunft und Menschenrechten – zunächst überrascht
es sicherlich, zwischen den Menschenrechten und der Vernunft überhaupt
einen Gegensatz sehen zu wollen. Tatsächlich aber zeigt sich bei genauerem
Hinsehen deren Gegensätzlichkeit. Von dem französischen Philosophen
Michel Foucault ist dies schon 1961 mit seinem Werk Wahnsinn und Gesellschaft
– Eine Geschichte des Wahnsinns
im Zeitalter der Vernunft angedeutet
worden und von dem amerikanischen Psychiater Thomas Szasz mit seinem aus
demselben Jahr stammenden Buch Geisteskrankheit
– ein moderner Mythos
implizit aufgedeckt worden. Aber es fehlt
an einer ausbuchstabierten Beschreibung dieses Gegensatzes.

“Die
Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache”
sagt Ludwig
Wittgenstein – aber noch wesentlicher ist der Gebrauch eines Wortes in gesellschaftlicher
Praxis. Wie die Handlungen und die Beziehungen von Menschen durch den Gebrauch
bestimmter Wörter strukturiert werden, bestimmt deren Bedeutung, insbesondere
wenn diese die Anwendung monopolisierter Gewaltmittel rechtfertigen soll,
um den Willen eines anderen Menschen zu brechen.

Und
welchen Gebrauch hat nun “Vernunft” in der Sprache bzw. gesellschaftlicher
Praxis? Sie ist ein Herrschaftsinstrument, dessen brutaler Kern durch beschönigenden
Sprachgebrauch des Wortes “Vernunft” bis zur Unkenntlichkeit verhüllt
wird. Das ist der klassische Ideologievorwurf, der von den Vertretern der
Frankfurter Schule verschiedentlich erhoben wurde.

Diese
These soll im Folgenden belegt werden und man vermutet zurecht unsere Absicht
einer völligen Dekonstruktion von “Vernunft”. Michel Foucault
hat dafür das Bonmot geprägt: “Die Vernunft, das ist die
Folter”
.
Dabei werden wir bei diesem umfangreichen Thema nur ein grobes Mosaik legen
können, bei dem einige Zwischenräume offen bleiben.

Die
brachiale Vernunft

Was meinen
wir, wenn wir von einem Gegensatz zwischen Vernunft und Menschenrechten
sprechen? Es geht um eine rhetorische Zuspitzung, die auf einen Gegensatz
in letzter Konsequenz verweist. Es ist nicht gemeint, dass Vernunft und
Menschenrechte in einem antagonistischen Gegensatz stünden, denn sicherlich
gibt es auch vernünftige Begründungen für Menschenrechte
bzw. sind durch die Menschenrechte auch vernünftige Handlungen oder
Erklärungen geschützt. Aber, und deshalb konzentrieren wir uns
auf diesen Gegensatz, wenn es darauf ankommt, dann, wenn Unvernünftige
auf ihre Menschenrechte und deren Unteilbarkeit bestehen, dann tritt der
Gegensatz offen zutage.

Die
Unvereinbarkeit von Vernunft und Menschenrechten wird regelmäßig
zugunsten der Vernunft durch die Verletzung der Menschenrechte entschieden,
durch Brechen des Willens der Unvernünftigen mit Zwang und Gewalt in
der Psychiatrie, mit folterartiger Fixierung, ja sogar mit dem brachialst
möglichen Zugriff, der zwangsweisen Penetration mit einer Spritze und
Injizierung von bewußtseinsverändernden Drogen oder sogar erzwungenem
Elektroschocken.

Insofern
werden wir uns im Weiteren gar nicht um den Versuch einer umstrittenen Definition
von Vernunft bzw. deren wesentlichen Kriterien bemühen, sondern nur
umgekehrt, sozusagen von der komplementären Seite, eben der Unvernunft,
die Vernunft begrenzen. Zumindest folgendes gilt per Definition als nicht
vernünftig bzw. unvernünftig: Handlungen, Gefühle und Gedanken,
die als wahnsinnig, psychisch krank oder geistesgestört diagnostiziert
werden.

Während
bei einer kriminellen Handlung wenigstens die Rechte anderer verletzt wurden
und somit – maximal nach der Verhältnismäßigkeit aller staatlichen
Gewalt – wiederum Rechte des Verletzers verletzt werden können, gibt
es bei den Unvernünftigen kein Halten mehr: Auch das sonst als zivilisatorisches
Tabu etablierte Folterverbot gilt nicht mehr, wenn die körperliche
Unversehrtheit der Unvernünftigen durch die psychiatrische Zwangsbehandlung
verletzt wird und sie gegen ihren erklärten Willen in psychiatrischen
Gefängnissen misshandelt werden.

Diese
Misshandlungen sind unvereinbar mit den Menschenrechten, wie sie 1948 in
der UN Erklärung beschlossen wurden. Durch die systematische Unterscheidung
von Vernunft und Unvernunft ist es möglich einer bestimmten Gruppe
von Menschen, die Menschenrechte vorzuenthalten.
Es fragt sich, wie die Unvernünftigen so eine Bedrohung für Vernunft
werden konnten?

Die
Vernunft in den Fußstapfen der Inquisition

Das Programm der Aufklärung ist der Versuch, der Vernunft einen göttlichen
Platz zu verschaffen. Damit wurde der Vernunft die Position eines obersten
Richters eingeräumt, der die universalen und letzten Fragen entscheidet.
Die bürgerliche Gesellschaft bemächtigt sich zur Legitimation
ihrer Machtübernahme dieses Vernunftbegriffs. Damit wird der Mensch
als vernünftig konstruiert. Vernünftigsein wird zum bestimmenden
Element vom Menschsein, womit eine neue Anthropologie begründet wird.

Dazu sagt Hannah Arendt in ihrer Arbeit: Über die Revolution:
“Zu meinen, man müsse nur die “irrationalen” unberechenbaren
Triebe und Begierden unter die Kontrolle des “Rationalen” bringen,
war natürlich überall charakteristisch für die Aufklärung.”

Andererseits
hat die Aufklärung mit den bekannten Forderungen nach “Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit” die Grundlage gelegt für die
Gleichheit der Rechte aller Menschen und damit der Menschenrechte. Damit
entsteht der Widerspruch zwischen der Gültigkeit eines universellen
Rechts für alle Menschen und der Konstruktion des Menschen als Vernunftswesen
und der Einschränkung auf bestimmte Menschen, bzw. der Ausschluss der
Unvernünftigen. Mit diesem Widerspruch beginnt der Terror der Vernunft
in den Fußstapfen der Inquisition.

Im
Verlauf dieser Entwicklung wird eine ständische Hierarchie qua familiärer
Genealogie abgelöst durch eine Hierarchie von Leistungsträgern.
Die Universität wird zur herrschaftsprägenden Institution. Der
erworbene Dr. und Prof. Titel löst den Adelstitel ab. Im Zuge dieser
Entwicklung setzt sich ein naturwissenschaftliches Weltbild durch. Naturwissenschaft
erlaubt durch die Objektivierung und Strukturierung mit mathematischen Modellen
und Kausalketten, starke Prognosen und neue Erklärungen der Vergangenheit.
Der Erfolg der modernen Naturwissenschaft führte einerseits zu einer
großen Produktivitätssteigerung – erwähnt sei z.B. nur die
Entdeckung der Elektrizität und ihrer technischen Nutzbarmachung. Andererseits
verführten diese Erfolge dazu, auch gesellschaftlichen, geschichtlichen
und persönlichen Prozessen eine Gesetzmäßigkeit zu unterstellen.
Auch verhießen sie soziale Utopien, die als wissenschaftlich deklariert
wurden, sich aber bei den Versuchen ihrer Realisierung als die Alpträume
der Vernunft entpuppten.

Interessant
ist dabei, dass der Anspruch totaler Erklärbarkeit bekanntlich schon
seit Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb der Naturwissenschaft, namentlich
der Physik, auf Widerspruch gestoßen ist: als Beispiele seien insbesondere
die prekäre Position des Beobachters in der Quantenphysik, die Heisenbergsche
Unschärferelation, die Relativierung von Raum und Zeit durch Einstein
und in der Königsdisziplin, der Mathematik, Gödels Unvollständigkeitssatz
genannt. Diese interne Demontage in den Kernbereichen von Physik und Mathematik
und damit von Naturwissenschaft hat längst die Möglichkeit der
Objektivierung fundamental in Frage gestellt, bzw. zersetzt. Diese Entwicklung
hat ihre Entsprechung in der Philosophie gehabt, in der namentlich Ludwig
Wittgenstein die Unmöglichkeit einer hierarchischen Ordnung von Sprachspielen
erklärt hat und damit die Idee einer universalen Theorie verworfen
hat. Aber was stellen wir fest: insbesondere in Medizin, Hirnforschung und
Biotechnologie, werden diese Tatsachen totgeschwiegen bzw. verdrängt
und ein längst überholtes mechanistisches Weltbild wird konserviert.

Bitte
keine vernünftige Ökonomie!

“Bürger Gesetzgeber! In Erwägung, dass bis heute der Arme
allein euch geholfen hat, die Revolution weiterzuführen und die Verfassung
zu schaffen; dass es Zeit ist, ihn ihre ersten Früchte ernten zu lassen;
setzt endlich auf die Tagesordnung die seit so langer Zeit gewünschte
Einrichtung von Werkstätten, wo der Arbeitsame immer, zu allen Zeiten
und überall die Arbeit findet, die ihm fehlt; von Heimen, wo der Greis,
der Kranke und der Sieche von Brüdern die Hilfe empfängt, wo der
Schmarotzer, der Arbeitsscheue an die Arbeit gewöhnt wird und darüber
erröten lernt, dass er von den Früchten des Schweißes anderer
gelebt hat.”

Dies ist ein Zitat einer Resolution der Einwohner der drei vereinigten Sektionen
des Arbeiterviertels Faubourg Saint-Antoine vom 4.Juli 1793, zitiert nach
Ulrich Enzensberger, Parasiten, S. 127.

Es
zeigt, dass bereits zum Zeitpunkt der Französischen Revolution die
Ausgrenzung sogenannter Schmarotzer als Ziel aufklärerischer Ideologie
aufscheint. Die Biologisierung sozialer Verhältnisse führt zu
einem Programm der Umerziehung zum Zweck der Normierung aller Gesellschaftsmitglieder.

Der
Vorstellung eines solcherart “vernünftig” funktionierenden
Ameisenstaates wurde nachhaltig von Marx Schwiegersohn Paul Lafargue widersprochen.
Mit seinem “Recht auf Faulheit” von 1884 konterkarierte er diese
Vernunftskonzepte von Produktionismus und Arbeitsethos.
In dieser Tradition wird es höchste Zeit, Vernunftskonzepte in der
Ökonomie endlich über Bord zu werfen: Ökonomie als die Produktion
von Waren, Dienstleistungen und anderen tauschbaren Werten verstanden, die
verschiedenster Bedürfnisbefriedigung dienen.

Hier
gibt es prinzipiell zwei gegensätzliche Konzepte:
a) in marxistischer Tradition wird eine vernünftige Produktion
gefordert, die in der von den Bolschewisten durchgesetzen Planwirtschaft
in die Realität umgesetzt wurde.
b) eine an Gewinnmaximierung orientierte Marktwirtschaft in der handelnde
Subjekte sich über die Bedingungen des Tausches einigen. Dabei spielt
Vernunft keine Rolle, es kommt nur auf die subjektive Befriedigung der miteinander
tauschenden Subjekte an.
Doch vernunftsgesteuerte Planwirtschaften können bestenfalls den Befehlscharakter
der Entscheidungen ihrer Planungsmacher versuchen zu minimieren, Bevormundung
bleibt dieser Form des Wirtschaftens jedoch eigen. Warum das so ist, ist
einfach zu erklären:
Menschen können aus denselben Gründen das Verschiedenste, ja sogar
Gegensätzliche, tun, und sie können aus den unterschiedlichsten
Gründen dasselbe tun. Das ist die Ontologie der menschlichen Freiheit.
Es kann also keine Abbildungs- oder Zuordnungsvorschrift bzw. ein Programm
für die Gründe von Handeln geben und damit ist auch die prinzipielle
Unvorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens bzw. menschlicher Bedürftnisentwicklung
logisch zwingend beschrieben.

Damit
wiederum ist ein System, das Spekulationen besondere Vorteile verschafft
bzw. die Spekulanten belohnt, deren Vorhersagen durch die weitere Entwicklung
bestätigt werden, dasjenige, das die unverhersagbare Bedürftnisentwicklung
schnell und genau bedient. Es macht sozusagen eine Kultivierung irrationaler
menschlicher Vorahnung – eben nicht Vernunft! – zu seinem Regulativ.

Dem
stehen – seiner Grundtönung nach christliche – Vernunftspredigten entgegen.
Sie wollen durch Projektionen, liebevolles Mitdenken, ja völlig absurdes
angebliches “Mitfühlen”, die logischen Nachteile von Vernunftsherrschaft
kompensieren. Im Sinne von, “Was du nicht willst das man dir tu´,
das füg´ auch keinem anderen zu”, wird aber nicht nur das
eigene Handeln begrenzt – entsprechend fordert der hypokratische Eid für
Ärzte nur, nicht zu schaden -, sondern es soll die eigene Maxime zur
Maxime aller gemacht werden können.

Thomas
Szasz hat in dem Buch “Theologie der Medizin” auf Seite 164 analysiert,
wozu das führt:
…”kann Gerechtigkeit im einfachsten Sinn als Erfüllung von
Verträgen oder Erwartungen definiert werden. Verträge beinhalten
außerdem Leistungen und Gegenleistungen – also offenkundige Handlungen.
Dadurch unterscheiden sie sich von Absichten, Gefühlen oder Geisteszuständen,
die persönliche Erfahrungen sind. Folglich läßt sich Gerechtigkeit
öffentlich kontrollieren, überprüfen und beurteilen, während
Liebe nicht überprüfbar ist.
Daher
ist die Behauptung man handle gerecht, ein Ersuchen um die Zustimmung anderer
Menschen, während die Behauptung, man handele liebevoll, keinen Raum
für das Urteil anderer läßt und in ihrem Eifer auch keinen
Widerspruch duldet. Kurz, obwohl die Liebe dem Ideal nachstrebt, die Bedürfnissse
der anderen zu beachten, und die Gerechtigkeit dem Ideal, vereinbarte Regeln
zu beachten, bietet die Gerechtigkeit in der Praxis den Interessen der anderen,
so wie sie selbst sie verstehen, mehr Schutz als liebevolle Handlungen.”

Und
was heißt das für die Menschenrechte? Eine Marktwirtschaft erreicht
also einen höheren Befriedigungsgrad der Tauschpartner. Diese haben
als handelnde Subjekte einen qualitativ anderen Entscheidungsspielraum,
weil er auf Selbstbestimmung angelegt ist: Es kommt nicht nur schneller
zu einer höheren Produktivität, sondern es entstehen auch größere
Spielräume für Transferleistungen, die an Tauschunwillige oder
Tauschunfähige mit dem Verweis auf deren Menschenrechte geleistet werden
müssen.

Also
kann viel eher auch der essen, der nicht arbeiten will. Die Menschenrechte
können mit der Forderung, dass es keine Zwangsarbeit geben dürfe,
so überhaupt erst verwirklicht werden. Das Recht auf Faulheit wird
dann von der Utopie zur gesellschaftlich alltäglichen Erungenschaft.

Und eben nicht nur für Reiche.

Menschenrechte
können also nicht durch Vernunft begründet werden. Sie sind das
Ergebnis einer Wertsetzung.

Freiheit,
so Matthias Beltz , “Freiheit ist, wo und wenn nichts mehr begründet
werden muss.”

Dieser
Text wurde erstmals am
11.05.2006 im
Dissidentenfunk
veröffentlicht.

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